Brodecks Bericht (German Edition)
und jeden Abend spazierte Hauptmann Buller auf seinen kurzen, dünnen Beinen durch die Straßen, sein Kinn zuckte, seine beiden Leutnants begleiteten ihn. Er ging schnell, als ob man ihn irgendwo erwartete, und beachtete die anderen nicht, denen er unterwegs begegnete. Manchmal schlug er mit seiner Reitpeitsche durch die Luft oder verscheuchte damit ein paar Bienen.
Die Bewohner des Dorfes waren wie benommen. Wir sprachen kaum miteinander, und wenn, dann nur das Nötigste. Wir waren mutlos und verängstigt.
Seit der Hinrichtung hatte ich Diodème nicht mehr gesehen. Was ich jetzt aufschreibe, habe ich erst in dem langen Brief erfahren, den er mir hinterlassen hat.
An dem dritten Abend, seit die Fratergekeime in unser Dorf gekommen waren, bestellte Buller Orschwir und Diodème zu sich. Es verstand sich von selbst, dass er Orschwir sehen wollte, denn er war ja der Bürgermeister, aber dass er auch Diodème sehen wollte, war schon erstaunlicher. Buller gab die Antwort auf diese Frage, die Diodème sowieso nie zu stellen gewagt hätte, und sagte, er sei der Lehrer, er müsse folglich weniger dumm sein als die anderen und in der Lage, zu verstehen, worum es dem Hauptmann ging.
Er empfing die beiden in seinem Zelt. Drinnen befanden sich ein Feldbett, ein Schreibtisch, ein Stuhl, eine Art Metallkoffer und ein Kleiderschrank aus Tuch, unter dem man einige Kleidungsstücke erahnen konnte. Auf dem Schreibtisch lag Briefpapier mit dem Namen des Regiments bedruckt, ein Stapel Löschpapier, ein Tintenfässchen stand dort, ein Glas mit Schreibfedern und eine gerahmte Photographie, auf der eine dicke Frau und sechs Kinder zu sehen waren, deren jüngstes um die zwei und deren ältestes etwa fünfzehn Jahre alt sein mochte.
Buller saß am Tisch und schrieb einen Brief. Er beendete ihn in aller Seelenruhe, las ihn noch einmal durch, steckte ihn in einen Umschlag, klebte den Umschlag zu, legte ihn auf den Tisch und drehte sich dann endlich zu den Männern um, die natürlich stehen mussten und sich keinen Millimeter bewegt hatten. Buller musterte sie schweigend, wahrscheinlich wollte er abschätzen, mit wem er es zu tun hatte. Diodème spürte, dass sein Herz ihm bis zum Hals schlug, und seine Hände waren schweißnass. Er fragte sich, wie lange diese Qual wohl noch dauern werde. Bullers Kinn zuckte in regelmäßigen Abständen. Er nahm seine Reitpeitsche, die auf dem Bett lag, und streichelte sie langsam und zärtlich wie ein Haustier.
«Und?», fragte er endlich.
Orschwir öffnete den Mund, aber schloss ihn wieder und sah stattdessen Diodème an, der auch sprachlos war.
Orschwir nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte endlich mit erstickter Stimme: «Und was, Hauptmann …», woraufhin Buller lächelnd antwortete:
«Die Säuberung, Herr Bürgermeister! Was sollte ich wohl sonst meinen? Wie weit sind Sie mit der Säuberung?»
Noch einmal sah Orschwir Diodème an, der seinem Blick auswich und den Kopf senkte, dann begann dieser Mann, der sonst immer so selbstsicher ist und dessen Worte scharf wie Peitschenhiebe sein können, den nichts beeindrucken kann und der die natürliche Autorität der Reichen und Mächtigen hat – dieser Mann begann zu stammeln. Dieser uniformierte Clown, der nur halb so groß war wie er, schüchterte ihn ein, dieses winzige Männlein mit seinem grotesken Tic, das albern seine Reitpeitsche streichelte.
«Es ist nur, Hauptmann … Wir … Wir haben nicht richtig verstanden … Ja, wir haben nicht verstanden … was Sie … was Sie damit sagen wollten.»
Orschwir seufzte und ließ die Schultern hängen. Buller stieß ein leises Lachen aus, dann stand er auf, begann, im Zelt auf und ab zu gehen, als ob er nachdenken müsste, und baute sich dann vor den beiden auf.
«Haben Sie schon einmal Schmetterlinge beobachtet, Sie, Herr Bürgermeister, oder Sie, Herr Lehrer, ganz egal, welche Art Schmetterlinge? Nein? Noch nie? Das ist schade, sehr schade! Ich habe mein Leben lang Schmetterlinge beobachtet. Manche Menschen beschäftigen sich mit Chemie, Medizin, Mineralogie, Philosophie, Geschichte, aber ich habe mein ganzes Leben den Schmetterlingen gewidmet. Sie sind der Mühe wert, glauben Sie mir, aber das machen sich nur wenige Menschen klar. Das ist traurig, denn wenn man diese prächtigen, zarten Kreaturen erforscht, kann man außerordentlich interessante Lehren für die Menschheit daraus ziehen. Stellen Sie sich zum Beispiel Folgendes vor: Bei einer unter dem Namen Rex flammae bekannten Art der
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