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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Lepidopteren kann man ein Verhalten beobachten, das zunächst abwegig erscheint, das sich aber, wie man durch viele protokollierte Beobachtungen feststellen konnte, als durchaus sinnvoll erwies, sogar als erstaunlich intelligent, wenn dieser Begriff denn im Zusammenhang mit Schmetterlingen angebracht wäre. Die Rex flammae leben in Gruppen von etwa zwanzig. Man nimmt an, dass es unter ihnen einen gewissen Zusammenhalt gibt, der sie dazu bringt, sich zu versammeln, wenn einer von ihnen genug Nahrung gefunden hat, sodass alle etwas davon bekommen. Ziemlich oft tolerieren sie auch Schmetterlinge anderer Arten in ihrer Gruppe, aber sobald ein Räuber sich nähert, warnen die Rex flammae sich offenbar gegenseitig – wie sie kommunizieren, ist unbekannt – und verstecken sich. Die anderen Schmetterlinge, die kurz vorher noch zu ihrer Gruppe gehörten, scheinen diese Information nicht zu bekommen und werden deshalb von dem Räuber gefressen. Die Rex flammae liefern dem Räuber eine Beute und sichern so ihr eigenes Überleben. Solange alles gutgeht, stört es sie nicht, wenn sich einige Artfremde in ihrer Gruppe aufhalten, vielleicht ziehen sie auf die eine oder andere Art sogar einen Vorteil daraus, aber sobald sich eine Gefahr zeigt, wenn es um das Fortbestehen ihrer Gruppe und um ihr eigenes Überleben geht, opfern sie ohne Zögern den Schmetterling, der nicht einer von ihnen ist.»
    Buller schwieg, dann ging er wieder im Zelt auf und ab und musterte dabei Orschwir und Diodème, die aus allen Poren schwitzten.
    «Vielleicht gibt es einfältige Gemüter, die finden, dass dieses Verhalten der Schmetterlinge unmoralisch ist, aber was ist schon die Moral, wozu ist sie nütze? Das Leben ist die einzige siegreiche Moral. Wer tot ist, hat immer unrecht.»
    Der Hauptmann setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und beachtete den Bürgermeister und Diodème nicht weiter. Die beiden verließen lautlos das Zelt.
    Einige Stunden später war mein Schicksal besiegelt. Die Erweckensbruderschaft , von der ich bereits erzählt habe, traf sich in dem kleinen für sie reservierten Hinterzimmer im Gasthaus Schloss. Auch Diodème war dort. In seinem Brief schwört er hoch und heilig, dass er bisher nicht dazugehörte, sondern an jenem Abend zum ersten Mal eingeladen worden sei. Aber was zählt das schon? Ob zum ersten oder zum letzten Mal, was ändert das? Diodème nennt in seinem Brief die Namen der Anwesenden nicht, er schreibt nur, wie viele sie waren. Ihn mitgezählt sieben Männer. Ich nehme an, dass sicher Orschwir einer von ihnen war und dass er wohl Adolf Bullers kleine Ansprache über die Schmetterlinge für die anderen wiederholte. Sie wogen die Worte des Hauptmanns ab und verstanden, was daran zu verstehen war, oder besser, was sie verstehen wollten. Sie redeten sich ein, dass sie selbst diese Schmetterlinge namens Rex flammae waren, von denen der Hauptmann erzählt hatte, und dass sie alle Artfremden aus ihrer Gemeinschaft ausschließen mussten, wenn sie selbst überleben wollten. Jeder von ihnen nahm einen Zettel und schrieb die Namen der fremden Schmetterlinge darauf. Ich nehme an, dass der Bürgermeister die Zettel einsammelte und vorlas.
    Alle schrieben dieselben Namen auf: Simon Frippman und meinen Namen. Diodème schwört, dass er meinen Namen nicht aufgeschrieben hat, aber ich glaube ihm nicht. Und selbst wenn es stimmt, haben die anderen ihn anschließend offenbar schnell überzeugen können, dass mein Name ebenfalls auf den Zettel gehörte.
    Frippman und ich hatten gemeinsam, dass wir nicht im Dorf geboren, sondern von weit her gekommen waren und anders aussahen als die Leute von hier: die Augen zu dunkel, das Haar zu schwarz, die Haut zu braun. Außerdem lag die Herkunft unseres Stammes im Dunkeln, und wir blickten auf eine jahrhundertlange leidvolle Geschichte der Vertreibungen zurück. Ich selbst bin auf Fédorines Karren ins Dorf gekommen, nachdem sie mich aufgelesen hatte, ein Waisenkind ohne Erinnerung, das zwischen den Toten und Ruinen umhergeirrt war. Frippman hingegen war erst zehn Jahre zuvor hier angekommen. Er sprach ein unverständliches Kauderwelsch. Einige Wörter ähnelten Fédorines alter Sprache, und so bat man mich manchmal zu dolmetschen. Frippman wirkte vollkommen verwirrt. Ständig wiederholte er seinen Namen, und ansonsten wusste er nicht viel über sich selbst. Weil er aber einen gutmütigen Eindruck machte, jagten die Leute ihn nicht weg, sondern fanden ein Bett für ihn in einer Scheune, die

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