Brodecks Bericht (German Edition)
mir sehen, das vor so langer Zeit in der ewigen Dunkelheit verschwunden ist.
Im Gasthaus Schloss war alles umgeräumt worden. Der Raum war nicht wiederzuerkennen. Wir trauten uns kaum herein und gingen nur auf Zehenspitzen. Sogar die schlimmsten Großmäuler waren ausnahmsweise still. Viele drehten sich zu Orschwir um, weil sie wahrscheinlich glaubten, dass der Bürgermeister mehr wisse als sie selbst und ihnen schon zeigen würde, wie sie sich zu verhalten, was sie zu sagen oder nicht zu sagen hätten. Aber Orschwir sah ebenso ratlos aus. Er war nicht klüger, und er wusste auch nicht, wie der Abend verlaufen würde.
Auf den Tischen, die an eine Wand geschoben worden waren, standen auf sauberen Tischdecken zahlreiche Gläser und Flaschen in geraden Reihen wie Soldaten vor der Schlacht. Außerdem gab es große Teller mit Wurstscheiben, Käsestücken, Schinken, magerem Speck, Brot und Wecken, genug, um eine ganze Kompanie zu ernähren. Beim Eintreten starrten alle gierig auf diese gesammelten Köstlichkeiten, denn so etwas gab es bei uns selten, höchstens einmal, wenn reiche Bauern ihre Kinder vermählen und ein wenig Eindruck schinden wollen. Deshalb bemerkte man erst nach einigen Augenblicken, dass an der Wand rund zwanzig Bilderrahmen angebracht worden waren, über die jemand sorgsam Küchenhandtücher gelegt hatte. Man machte sich gegenseitig darauf aufmerksam, indem man stumm mit dem Kinn Richtung Wand wies, da knarrten die Treppenstufen, und der Andere erschien.
Er trug nicht seine übliche komische Kleidung, also Hemd, Jabot, Gehrock, an die wir uns inzwischen gewöhnt hatten. An diesem Abend trug er ein langes und weites weißes Gewand, das seinen ganzen Körper verhüllte und bis auf den Boden fiel, aber seinen dicken Hals frei ließ. Es sah aus, als hätte ihm der Henker den Kragen abgeschnitten.
Der Andere stieg einige Stufen herunter, was merkwürdig wirkte, weil das Kleid so lang war, dass noch nicht einmal seine Füße frei blieben: Wie ein Geist schien er knapp über dem Boden zu schweben. Keiner sagte etwas, denn augenblicklich ergriff der Andere mit seiner leisen, hohen Stimme das Wort:
«Ich habe lange nachgedacht, wie ich Ihnen für den freundlichen Empfang und Ihre Gastfreundschaft danken kann, und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich einfach tun sollte, was ich gut beherrsche: beobachten, zuhören, die Seelen von Dingen und Lebewesen erfassen. Ich bin viel in der Welt herumgekommen. Vielleicht sehen meine Augen deshalb mehr und hören meine Ohren besser. Ohne Überheblichkeit kann ich wohl annehmen, dass ich manches von Ihnen und der Landschaft, in der Sie leben, verstanden habe. Nehmen Sie bitte meine bescheidenen Arbeiten als Ehrerbietung und nichts anderes. Und jetzt, Herr Schloss, bitte sehr!»
Der Gastwirt hatte sozusagen in Habtachtstellung auf dieses Zeichen gewartet und schritt nun zur Tat. Blitzschnell machte er einmal die Runde um den Saal und zog die Geschirrhandtücher von den Rahmen, und ausgerechnet in diesem Moment, als wäre die Szene nicht schon seltsam genug gewesen, ertönte ein erster lauter Donner, scharf wie ein Peitschenhieb, der auf die Kruppe einer Schindmähre klatscht.
Das parfümierte Kärtchen hatte nicht gelogen: An den Wänden hingen Porträts und Landschaften . Es waren keine Gemälde im eigentlichen Sinne, sondern Tuscheskizzen, mal in groben, dann wieder in feinen Strichen gezeichnet, die sich berührten, überlagerten und überschnitten. Wie bei einer Prozession schritten wir alle diesen merkwürdigen Kreuzweg ab, um die Bilder aus der Nähe zu betrachten. Einige der Anwesenden, die, wie Göbbler und Rechtsanwalt Knopf, so gut wie blind waren, drückten sich fast die Nasen platt, andere wieder lehnten sich so weit zurück, dass sie fast nach hinten umkippten, weil sie das Ganze in den Blick bekommen wollten. Erste überraschte Rufe und nervöses Gelächter waren zu hören, immer dann, wenn einer sich oder andere auf den Bildern erkannte. Der Andere hatte einige Dorfbewohner gezeichnet, warum gerade sie, das bleibt sein Geheimnis. Auf den Porträts waren Orschwir, Hausorn, Pfarrer Peiper, Göbbler, Dorcha, Vurtenhau, Röppel, der Küster Ulrich Yackob, Schloss und ich dargestellt. Auch Landschaften hatte er gezeichnet: den Kirchplatz mit den niedrigen Häusern rundherum, den Lingen-Stein, Orschwirs Bauernhof, die Tizenthal-Felsen, die Baptisterbrücke mit der Gruppe Kopfweiden im Hintergrund, die Lichmal-Lichtung und den großen Saal im Gasthaus
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