Brodecks Bericht (German Edition)
lächelnden, in die Ferne blickenden Mann mit friedfertigen Zügen sah. Wenn man es aber von schräg rechts betrachtete, bekamen der Mund, der Blick und die Stirn plötzlich etwas Boshaftes, man sah ein verkniffenes Grinsen, und das Gesicht wurde zu einer überheblichen, ja, grausamen Grimasse. Aus Orschwirs gezeichnetem Gesicht sprachen Feigheit, Willensschwäche und Niederträchtigkeit. Dorchas Bild zeigte, dass er zu Grausamkeiten fähig war und blutige, nicht wiedergutzumachende Taten begangen hatte. Vurtenhau waren seine Kleingeistigkeit, Dummheit, Neid und Wut anzusehen. Und in Peipers Zügen konnte man erkennen, dass er litt, dass er sich schämte. Die Zeichnungen des Anderen brachten auf geheimnisvolle Weise die verborgensten Wahrheiten der Dargestellten ans Licht. Es war, als ob sie die Menschen ohne Haut vorführten.
Und erst recht die Landschaften! Eigentlich ist ein Landschaftsbild eine ganz harmlose Sache. Es ist nichtssagend, und im besten Fall kann es vielleicht eine Stimmung ausdrücken, mehr nicht. Aber die Landschaften, die der Andere gezeichnet hatte, erzählten Geschichten. Man konnte sehen, was dort, an diesem oder jenem Ort, geschehen war. Erinnerungen an Ereignisse, die sich dort abgespielt hatten, wurden wach. Ein Tintenfleck auf dem Kirchplatz, genau da, wo die Hinrichtung stattgefunden hatte, und sofort sah ich wieder das viele Blut vor mir, das aus Alois Cathors Körper geströmt war, nachdem man ihm den Kopf abgeschlagen hatte. Und wenn man auf demselben Bild die Häuser um den Platz herum genau betrachtete, dann bemerkte man, dass alle Türen verschlossen waren – bis auf eine. Die Tür von Otto Mischenbaums Scheune stand unübersehbar offen. Das ist keine Erfindung, Ehrenwort! Und stand man vor dem Bild der Baptisterbrücke und neigte leicht den Kopf, um die Zeichnung schräg von der Seite zu betrachten, dann erkannte man, dass die Wurzeln der Weiden die Umrisse von drei Gesichtern, von drei Mädchengesichtern, skizzierten. Kniff man bei der Betrachtung des Bildes der Lichmal-Lichtung ein wenig die Augen zusammen, zeigten sich dieselben Gesichter in den Ästen der Eichen. Auf einigen anderen Zeichnungen des Anderen konnte ich nur deshalb nichts Besonderes erkennen, weil die Ereignisse, an die sie erinnern würden, noch gar nicht stattgefunden hatten – zum Beispiel das Bild der Tizenthal-Felsen, die zu dieser Zeit nur gewöhnliche, weder schöne noch hässliche Felsen ohne besondere Geschichte waren. Aber Diodème stand wie angewurzelt davor. Dreimal musste ich seinen Namen nennen, erst dann drehte er sich um und sah mich an.
«Was siehst du denn da?», fragte ich ihn.
«Ich sehe etwas, ja …», antwortete er gedankenverloren.
Mehr sagte er nicht. Lange nach seinem Tod erst fiel mir die Zeichnung wieder ein.
Man könnte jetzt natürlich einwenden, ich rede wie im Fieberwahn. Diese Sache mit den Zeichnungen klinge äußerst unwahrscheinlich, und man müsse schon sehr getrübte Sinne haben, wenn man in einfachen Kritzeleien das alles sehe, was ich gesehen habe. Und außerdem könne man diese Dinge ja ganz gefahrlos behaupten, weil es die Zeichnungen schließlich nicht mehr gibt. Ja, es stimmt, sie wurden alle zerstört, und zwar noch am selben Abend. Aber wenn das kein Beweis ist? Sie wurden in kleine Stücke zerfetzt, verstreut, verbrannt, weil sie Geschichten erzählten, die nie hätten erzählt werden dürfen, und weil sie Wahrheiten enthüllten, die man sorgfältig verbergen wollte.
Ich hatte genug gesehen.
Ich verließ das Gasthaus, wo es immer ausgelassener zuging. Die Männer johlten, noch waren sie lustig beschwipst. Diodème ist bis zum Schluss geblieben, und von ihm habe ich erfahren, was dann geschah. Noch etwa eine weitere Stunde lang stellte Schloss immer mehr Krüge und Flaschen auf die Tische, aber dann kam plötzlich kein Nachschub mehr. Wahrscheinlich war der Betrag jetzt ausgegeben, den der Andere Schloss für den Abend hatte zahlen wollen. Die Stimmung wurde gleich ein wenig schlechter. Zuerst gab es nur einzelne Rufe und ein paar Gesten, nichts Schlimmes, dann gingen ein paar Gläser zu Bruch, aber auch das war noch nichts Ernstes. Schließlich aber wurde das Gemurre der Männer immer lauter. Sie benahmen sich wie Kälbchen, die man vom Euter absetzt, die anfangs muhen, sich dann aber schnell eine neue Beschäftigung suchen. Den Männern fiel wieder ein, warum sie gekommen waren. Sie wandten sich den Zeichnungen zu und betrachteten sie noch einmal. Oder
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