Brodecks Bericht (German Edition)
Schloss.
Wirklich bemerkenswert war, dass man die Gesichter und Orte erkannte, obwohl die Zeichnungen nicht genau waren. Es war, als riefen sie beim Betrachter Erinnerungen und vertraute Eindrücke wach, durch die sich die nur angedeuteten Darstellungen vor unseren Augen vervollständigten.
Sobald alle ihre kleine Runde gedreht hatten, ging man zum angenehmen Teil des Abends über. Man kehrte den Bildern den Rücken zu, als ob es sie nie gegeben hätte, und machte sich über die Leckereien her. Fast sah es so aus, als hätten die meisten Gäste seit einer Ewigkeit nichts mehr zu essen und zu trinken bekommen. Sie benahmen sich wie die Wilden. Im Nu hatten sie alles weggeputzt, was dort angerichtet gewesen war, aber Schloss hatte offenbar seine Anweisungen bekommen und stellte immer wieder volle Flaschen und beladene Platten auf die Tische, sodass die Gläser und Teller nie lange leer waren. Die Wangen röteten sich, Schweiß sammelte sich auf der einen oder anderen Stirn, die Gespräche wurden lauter, und erste Flüche waren zu hören. Wahrscheinlich hatten viele der Anwesenden schon vergessen, warum sie gekommen waren, und keiner achtete mehr auf die Bilder. Sie wollten sich nur noch die Bäuche vollschlagen. Der Andere war verschwunden. Diodème war es, der mich darauf hinwies.
«Gleich nach seiner kleinen Rede ist er wieder in sein Zimmer verschwunden. Was hältst du davon?»
«Wovon?»
«Na, von dem hier …»
Mit einer vagen Handbewegung deutete Diodème auf die Zeichnungen. Ich habe wohl die Achseln gezuckt.
«Das Porträt von dir ist seltsam, es ähnelt dir nicht, und dennoch bist du es, unverkennbar. Wie soll ich es beschreiben, komm mal …»
Ich wollte nicht unhöflich sein, also ging ich mit. Wir drängten uns zwischen den vielen schwitzenden schnaufenden Leibern hindurch, die nach Wein und Bier rochen. Stimmen wurden lauter, Gemüter erhitzten sich. Orschwir hatte seine Otterfellmütze abgesetzt. Rechtsanwalt Knopf pfiff leise vor sich hin. Den Zungfrost , der normalerweise nichts trank, hatte man gezwungen, drei Gläser zu leeren, sodass er zu tanzen begann. Drei Männer hielten lachend Lulla Carpak zurück, einen Landstreicher mit gelbem Haar und blasser Gesichtshaut, der betrunken war und sich unbedingt mit jemandem anlegen wollte.
«Sieh genau hin …», sagte Diodème. Wir standen jetzt dicht vor der Zeichnung. Ich tat, worum er mich gebeten hatte, und betrachtete das Bild lange, zunächst ohne besondere Neugier. Dann aber zog die Zeichnung mich in ihren Bann.
Als ich kurz zuvor zum ersten Mal das Bild, unter dem mein Name stand, gesehen hatte, war mir nichts dazu aufgefallen. Vielleicht war mir der Umstand, dass ich gemalt worden war, an sich schon peinlich gewesen, sodass ich schnell wieder weggesehen hatte und zum nächsten Bild weitergegangen war. Aber als ich jetzt zum zweiten Mal davor stehenblieb und es aufmerksam betrachtete, schien es mir, als wäre das Bild mit einem Mal lebendig geworden. Das, was ich da vor mir sah, waren keine Linien, Kurven, Punkte und Schraffuren mehr, sondern die Erfahrungen meines Lebens. Das Porträt, das der Andere gemalt hatte, war mein Leben. Es zeigte mir mich selbst, meine Leiden, Abgründe, Ängste und Wünsche. Ich sah meine versunkene Kindheit, die langen Monate im Lager, meine Rückkehr. Ich sah die verstummte Emélia, ich sah alles. Das Bild war ein dunkler Spiegel, der mir alles zeigte, was ich einst gewesen bin und noch immer war. Da hörte ich Diodème wie von weit weg fragen:
«Und, was sagst du dazu …?»
«Das ist eigenartig», sagte ich.
«Und wenn du genau hinsiehst, wenn du wirklich ganz genau hinsiehst, ist es bei allen anderen Bildern das Gleiche: Sie sind nicht wirklich präzise, aber sehr wahr.»
Vielleicht lag es an seiner Leidenschaft für Romane, dass Diodèmes Phantasie manchmal mit ihm durchging. Aber was er an jenem Abend sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Aufmerksam sah ich mir noch einmal die anderen Zeichnungen an, die der Andere an die Wände des Gasthauses gehängt hatte. Die Landschaften, die mir vorher uninteressant vorgekommen waren, erschienen mir mit einem Mal sinnfällig, und die Gesichter auf den Porträts gaben ihre Geheimnisse, Sorgen, Bosheiten, Fehler, Verwirrungen und niederen Regungen preis. Ich taumelte, da mir schwindelig wurde, obwohl ich kein Glas Wein oder Bier angerührt hatte. Göbblers Porträt zum Beispiel war so geschickt gezeichnet, dass man, wenn man es von links betrachtete, einen
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