Broken (German Edition)
das Auge reichte. Der Verkehr war dicht und stockend, jede Menge Ampeln. Wir kamen immer mal wieder fünfzehn Meter zügig voran, um dann geschlagene zwei Minuten auf der Stelle zu stehen. Der Ort wirkte, als würde er aus den Nähten platzen. Ich hatte nicht einkalkuliert, dass Big Knob an einem langen Wochenende der Renner war. Das konnte man auch positiv sehen. Ausnahmsweise waren alle ganz ähnlich gekleidet wie Neil.
«Wie funktioniert das eigentlich genau?» Neils erste Worte nach gut dreißig Minuten schreckten mich auf. «Das Krematorium, meine ich.»
Ich sah ihn an. «Darüber hast du die ganze Zeit nachgedacht?»
«Muss man sich das wie einen großen, langen Ofen vorstellen?»
«So ungefähr.»
«Mit Rollen, auf denen der Sarg hineingleitet?»
«Ich denke, meistens ist es bloß so eine Art großer Pappsarg. Ich weiß nicht, wie sie den ins Feuer befördern.»
Ich starrte auf eine Konföderiertenfahne im Heckfenster des Pick-up vor uns und spürte, wie die Wut in mir hochstieg. Im Süden wird seit langem über diese Fahne und die Frage, ob sie noch zeitgemäß ist, diskutiert. Leute, die sie zeigen, behaupten, es ginge ihnen um Georgias reiche Geschichte, die Rechte unseres Bundesstaates und um Südstaatenidentität. Schwachsinn. Jeder weiß, worum es in Wirklichkeit geht. Was immer die Fahne zur Zeit des Bürgerkrieges für die Konföderierten Staaten und den Süden bedeutet hat – für Schwarze steht sie heute schlicht und ergreifend für Vorurteile und Terror. Kapuzen tragende Ku-Klux-Klaner schwenkten sie bei Aufmärschen in den Straßen. Anhänger von Gouverneur Strom Thurmond, einem glühenden Verfechter der Rassentrennung, benutzten sie während seiner Präsidentschaftskandidatur 1948 als Symbol weißer Vorherrschaft. Danach wusste jeder, in was die Konföderiertenfahne verwandelt worden war. Wenn ich könnte, würde ich jede einzelne abfackeln. Zum Teufel mit der Meinungsfreiheit.
«Und übrig bleibt nur ein Häufchen Asche?», fing Neil schon wieder an. Allmählich ging er mir auf die Nerven.
«Okay, was ist so faszinierend an einem Krematorium?»
Er zuckte die Achseln und antwortete eine Weile nicht. Mein Wagen bewegte sich ganze acht Meter weiter. Eine angenehme Brise wehte vom See heran. «Ich schätze, ich frage mich bloß, wie das für den Typen ist, der da arbeitet», gab er schließlich zu. «Ich meine, das muss einer sein, der genau weiß, wie heiß das Feuer zu sein hat, damit Fleisch und Knochen verbrennen. Was glaubst du, worüber der nach Feierabend redet? Wahrscheinlich hat er Fachzeitschriften über Menschenrösten und Kataloge für gruselige Instrumente. Der kennt sich aus damit, wie man Tote loswird, dieser Typ. Glaubst du, dass er inzwischen nur noch Leichen sieht? Ich meine, am Anfang, da hat er vielleicht Menschen gesehen, die gelebt haben und so, aber jetzt sieht er bloß noch irgendwelches tote Fleisch, das entsorgt werden muss.»
«Himmel …» Ich sah ihn an.
Der Pick-up mit der Konföderiertenfahne stoppte plötzlich, obwohl noch reichlich Platz vor ihm war. Ich stieg auf die Bremse. Neil flogen das Handy und ein paar andere Geräte aus den Händen und landeten auf dem Boden. Er fluchte.
In dem Pick-up lehnte sich ein Jugendlicher aus dem Fenster und quatschte mit einer Gruppe Mädchen auf dem Bürgersteig. Er hatte muskelbepackte Oberarme, einen Bürstenschnitt, einen baumelnden Ohrring, der in der Sonne glänzte. Der Fahrer mischte sich ein. Alle plauderten und lachten. Die Ampel weiter vorn sprang auf Grün, und die Lücke vor dem Pick-up wurde noch größer. Mir raste noch immer das Herz, nachdem ich ihm fast hinten draufgeknallt war, daher fand ich das Ganze nicht besonders charmant. Ich drückte auf die Hupe.
Die Beifahrertür ging auf. Au Backe. Der Bursche trug ein himmelblaues Football-Trikot mit einer fetten Sieben mitten auf der Brust. «Gibt’s ein Problem, Lady?», brüllte er zu uns rüber. Er hatte breite Schultern und einen dicken Hals.
«Na toll, jetzt kriegen wir von Rednecks die Hucke voll. Gut gemacht», murmelte Neil.
Der junge Mann schirmte die Augen mit einer Hand ab und blinzelte, dann beugte er sich in den Pick-up und sagte irgendwas zu dem Fahrer. Die Tür des Fahrers ging auf, und auch er stieg aus. Trikot in derselben Farbe, noch dickerer Hals und noch breitere Schultern, eine zweistellige Zahl. Sie quatschten viel, während sie zu uns rüberschauten und nickten. Neil und ich wechselten einen unsicheren Blick.
Nummer sieben
Weitere Kostenlose Bücher