Brombeersommer: Roman (German Edition)
da. Zufällig bin ich noch da. Dafür schulde ich dem Leben was. Ein Ziel schulde ich dem Leben, verstehst du? Wir brauchen doch höhere Ziele, nicht nur warme Hausschuhe unter dem Bett.« Sie blieb abrupt stehen.
»Ich habe erst mal genug von allen Idealen«, sagte Theo.»Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, dass die großen Ideale uns in die Katastrophe geführt haben.«
Edith mochte es nicht, wenn man anderer Meinung war als sie. »Ich gehe hier rum. Du brauchst mich nicht nach Hause zu bringen«, sagte sie, voller Ärger über den Ort, an dem sie gelandet war.
Wenn der Krieg nicht gewesen wäre. Dann würde sie jetzt vielleicht an dem runden Tisch im Neuhausener Wohnzimmer sitzen. Die Spitzendecke hatte seidige, lange Fransen wie ein frivoles Charlestonkleid. Edith hatte gern Zöpfe daraus geflochten, die sich von allein wieder aufdröselten. Oft lag Justus, der Kater, auf ihrem Schoß und ließ sich kraulen, bis er plötzlich, wenn niemand damit rechnete, blitzschnell etwas vom Tisch schnappte und sich damit verzog. Geräucherte Makrele hatte er am liebsten. Ihr schwarzer Justus, der an der Station der Kleinbahn, verborgen im Gebüsch, darauf wartete, dass sie aus der Schule kam und, sobald sie ausgestiegen war, mit erhobenem Schwanz ihr voraus nach Hause schritt.
Wenn der Krieg, die Flucht nicht gewesen wären, wäre sie vielleicht nicht beim ersten Mann hängen geblieben. Es hatte andere Verehrer gegeben, auch damals schon, die studierten und eine glänzende Zukunft vor sich hatten. Was aus denen wohl geworden war? Ob sie noch lebten? Hier gab es gar nichts, keine Universität, kein Konservatorium, keinen Rahmen, in dem das Besondere oder etwas Großartiges gedeihen konnte. Und Karl, der wollte partout nichts Besonderes. Karl wollte gar nichts.
Sie betrat die Küche, ohne das Licht anzuzünden. Karl schlief ganz sicher schon. Sie öffnete im Dunkel dasBuffet, zog das Album heraus, das sie bei der Flucht mitgeschleppt hatten, als alles andere schon verloren war. Als das Glas Himbeermarmelade, das sie auf den Handwagen gepackt hatten, auf den Bahnsteig gefallen und zerbrochen war und sie die Marmelade mit einem Löffel vom Boden gekratzt und in eine Tasse gefüllt hatten. Als sie, Edith, in Pillau dem jungen Soldaten schöne Augen gemacht hatte, damit er sie noch auf das Minensuchboot ließ, das letzte Schiff, das von Pillau ablegte. Dafür musste sie noch Tadel einstecken, wo sie doch auch ihrer Mutter und ihrer Schwester damit wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.
Sie ging mit dem Album vors Haus, setzte sich auf die Eingangsstufen und betrachtete im Mondlicht die kaum aus dem Dunkel hervortretenden Konturen ihres Elternhauses. Auf einem anderen Foto reckte die Kirche ihren Turm zum Himmel. Und hier, auf diesem Bild, der alte Lehnstuhl. Die Glatze ihres Vaters, sanft schimmernd. Hatte je jemand darübergestreichelt? Dort die weiße Gartenbank vor dem Haus, neben der im Sommer die Stockrosen in hellem und dunklem Rosa aufschossen. Den schwarzen Kater Justus sah man nicht bei diesem Licht. Und Edith, die Edith von früher, gab es auch nicht mehr.
16
»Karl«, sagte Viola, »ich muss dich mal was fragen.« Sie gingen auf dem Goldberg spazieren, Edith und Theo waren ziemlich weit voraus. »Ich denke, dass ich Theo heiraten sollte.«
»Das ist doch keine Frage«, antwortete Karl verwundert.
»Findest du?« Viola rupfte ein paar Gräser am Wegrand aus, die gerade erst in den März hineingesprossen waren, und schwieg eine Weile. »Du hast schon recht«, sagte sie dann. »Wir passen gut zusammen, Theo und ich. Wir denken ähnlich. Wir schauen beide nach vorn. Theo ist realistisch, unsentimental. Nicht wie sein Vater, der immer noch nicht glauben will, dass Deutschland und sein ganzer Nationalsozialismus erledigt sind. Wir haben den totalen Krieg gewollt und die totale Niederlage bekommen. Wir haben gar keine andere Wahl, wir müssen umdenken. Mein Vater war Sozialdemokrat, mir fällt die Umstellung nicht schwer.«
Karl hätte gern gefragt, ob sie Theo denn nur aus Vernunftgründen heiraten wolle, aber die Frage klebte ihm auf der Zunge fest, und ehe er sie losbrachte, kam schon Theo auf sie zu.
»Mensch, wo bleibt ihr beide denn?«, rief er. »Wir sind inzwischen schon zweimal um den Bismarck-Turm gelaufen.Gleich gibt’s ein Gewitter, nun macht mal ein bisschen. Im Turm stellen wir uns jedenfalls nicht unter, da drin sind sieben Leute vom Blitz erschlagen worden, weil ein Metalldieb den
Weitere Kostenlose Bücher