Brombeersommer: Roman (German Edition)
flüsterte Edith, »gab es nicht so viele Menschen auf einem Fleck wie hier. Wie mir das alles fehlt. Muttchen und Marianne und der Kater. Und der Papa, das Klavier und die Orgel. Und die Nehrung und …« – sie hielt kurz inne – »und Königsberg würde mir fehlen, wenn ich nicht immer daran denken müsste, dass Papa dort gefallen ist.« Sie erschrak, als hätte sie ihn mit dieser Aussage umgebracht.
»Solange er vermisst ist, kann er genauso gut noch leben«, sagte Viola.
Eine ältere Frau in einem abgewetzten grauen Wollmantel, die mit dem Rücken zu ihnen stand, drehte sich um und sah Edith böse an. »Ihr im Osten habt doch gar keinen Krieg gehabt all die Jahre. Die Bomben, die sind doch hier gefallen.« Dann zeigte sie ihnen wieder ihre Hinterseite.
»Ihr könnt eure Heimat wieder aufbauen«, sagte Edith in den Rücken hinein, »wir haben unsere verloren.«
»Hier wird es auch nicht mehr, wie es mal war«, sagte Viola, die solchen Streit nutzlos fand.
Die Frau drehte sich noch einmal um. »Wissen Sie, was es heißt, jahrelang in Angst zu leben? Können Sie sich vorstellen,wie viele Bomben fünf Jahre lang aufs Ruhrgebiet gefallen sind?«
»Schon gut«, sagte Viola. »Jeder hat Angst gehabt. Nun beschäftigen Sie sich mal wieder mit Ihren eigenen Angelegenheiten. Den Krieg haben übrigens wir angefangen. Schon vergessen?«
Die Frau sagte nichts mehr.
»Und bei dir«, fragte Edith leise, »wie war das bei dir im Krieg?«
»Bei mir?«, sagte Viola. »Die Sirenen haben einem das Denken ausgetrieben. Voralarm, Vollalarm, Entwarnung. Am Tag und in der Nacht. Den Sirenenalarm hatten wir praktisch den ganzen Krieg hindurch und das Gedröhn der Bomberverbände. Das kochte einen weich. Du wusstest ja nie, wo sie das Zeug abladen. Ob das nun für Essen oder Dortmund oder Köln bestimmt war. Hinterher sah man die Feuersbrunst und wusste, wo es eingeschlagen hatte. Angst hattest du auch, wenn es dich nicht traf. Und in den Bunker ranntest du jedes Mal.« Die Bilder stiegen wieder in Viola hoch, als läge nur ein dünner Aschefilm darüber. »Wir wussten, dass wir auch noch drankamen. Es war nur eine Frage der Zeit.«
Sie dachte daran, wie eine Sprengbombe in den großen Bunker auf der Körnerstraße eingeschlagen hatte. Mehrere hundert Menschen waren dabei getötet worden, auch Hilde Simon, bei der sie die Schneiderlehre gemacht hatte.
Edith drückte mitfühlend Violas Arm.
»Ich war dienstverpflichtet«, fuhr Viola fort. »Wir haben in der Stadt fast nur wehrwirtschaftlich wichtige Industrie gehabt. Am Anfang waren die meisten Männer inden Stahl- und Eisenwerken unabkömmlich, in der Akku sowieso. Akku, so nannten wir die AFA, die Accumulatorenfabrik. Da machten sie Batterien für U-Boote , Schiffe, Flugzeuge. Der größte Arbeitgeber in der Stadt. Erst waren da alle ›uk‹, aber dann kämmten sie die Betriebe allmählich aus. Am Anfang warben sie italienische Arbeiter an, um die eingezogenen Männer zu ersetzen, dann folgten Franzosen, Belgier. Freiwillig kamen die bestimmt nicht, obwohl man ihnen alles Mögliche versprach. Später brachten sie Ostarbeiter her, Kriegsgefangene, aber auch Zivilisten, ganze Familien. Viele Frauen. Immer mehr Frauen wurden in den Fabriken eingesetzt. Uns holten sie für Büroarbeiten. Ich kam in die Klöckner-Werke, Stahl und Eisen. Den größten Teil der Zeit arbeitete ich im Büro. Nur am Schluss, da kam ich zur Panzerblechfertigung, weil sie die Ostarbeiterinnen für gefährlichere Arbeiten einsetzten. Da sind viele gestorben …« Warum noch mehr erzählen, dachte sie und sagte nur: »Aber Ostarbeiter hattet ihr auf dem Land ja auch.«
»Ja«, sagte Edith.
»Waren deine Eltern in der Partei?«
Edith schüttelte den Kopf. »Nein. Doch. Sie haben sich darüber gestritten. Mein Vater ist ziemlich spät in die Partei eingetreten. Er sagte, er müsse das als Lehrer. Er war Schulrat, sie setzten ihn unter Druck. Muttchen war dagegen. Sie hasste den ganzen Verein. Zum Bund Deutscher Frauen ging sie nicht. Das ärgerte meinen Papa. Er sagte, sie mache ihm extra Schwierigkeiten. Aber da war sie stur. Sie schrieb uns oft Entschuldigungen, wenn wir wegen dem BDM jammerten. Einmal hat mir die BD M-Führerin den Ohrring aus dem Ohr gerissen. Siehst du, hier?« Sie zeigte Viola das Ohrläppchen. »Das Ohr ist eingerissen. ›Ein deutsches Mädel trägt keinen Schmuck‹, hat sie gesagt. Die konnte mich nicht ausstehen. Na, du siehst ja, wie ich aussehe. Nicht sehr
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