Brombeersommer: Roman (German Edition)
Dir gemeinsam verleben durfte, gedenkend, Jan«, stand hinten drauf.
Wenn Karl Ausgang hatte, zog er allein durch die spätherbstlichen Stoppelfelder, sah der frühen Dämmerung zu oder setzte sich in die alte Ordensritterkirche. Er war nicht besonders gläubig, obwohl seine Großmutter in dem strengen schwarzen Kleid, die Katze auf der Schulter, die Bibel auf dem Schoß, ihn immer dazu ermahnt hatte. Er liebte die Stille in der Neuhausener Kirche, die allem standhielt, auch den Schneestürmen, die im Winter pfeifend gegen das steinummauerte Holzportal jagten. Er betrachtete das Deckengemälde in dem hölzernen Tonnengewölbe, seine Augen folgten wieder und wieder demBand der Ornamente, als könne er sich über das ewig sich wiederholende Muster mit der Unendlichkeit verbinden.
Nur seine Mutter, die fehlte ihm. Na, mein Jüngsken, hörte er sie sagen, und es klang Traurigkeit mit. Sie erzählte in ihren Briefen von zu Hause, und er hatte beim Lesen ihre leise und schnell erschöpft klingende Stimme im Ohr.
Später, nach dem Krieg, fragte er sich, ob er sich in Edith verguckt hatte, weil er die ostpreußische Landschaft liebte. Es hatten sich viele Eindrücke in seinem Kopf verwoben: der feine Sand der Kurischen Nehrung, das nördliche Licht, die Weite, die typischen Backsteinkirchen, die ihre Türme, fünf Fingern gleich, beschwörend reckten, Edith und die Musik.
Er war unmusikalisch, davon war er überzeugt, obwohl seine Mutter beim Nähen so gern sang. Sein Vater hörte Marschmusik. Aber der Gedanke einer musikalischen Erziehung für die Kinder wäre für sie exotisch gewesen. Die Welt der Musik erschloss sich ihm erst durch Edith. Die Impromptus und Balladen, Präludien und Fugen, Kantaten und Toccaten, die Arien und Liederkreise, Klavierkonzerte und Symphonien. Edith öffnete ihm das Ohr und eine Welt, in der er von nun an vieles fand, wonach er sich sehnte, in C-Dur und g-Moll.
Karl liebte seine Einsamkeiten.
15
»Meinst du, Viola wird mich heiraten?«, fragte Theo, bevor Edith überhaupt sagen konnte, warum sie gekommen war.
»Klar«, antwortete Edith. »Aber eigentlich wollte ich mit dir über was anderes reden. Karl ist dafür nicht zu haben, aber ich würde gern einmal in der Woche abends was unternehmen. Zum Beispiel einen Kurs an der Volkshochschule besuchen. Irgendwas, wo man was lernt. Über Literatur oder Kunst …«
Theo seufzte. »Und ich soll mitkommen? Verschafft mir das Studium nicht genug Bildung?« Aber dann dachte er doch nach und sagte: »Es gibt einen Griechischlehrer, der liest mit interessierten Leuten die ›Odyssee‹.«
»Auf griechisch?«
»Nein, wer kann denn so gut Griechisch?«
Von nun an gingen Edith und Theo einmal die Woche in die Jugendstilwohnung von Herrn Dr. Axelrodt, die den Krieg fast unbeschadet überstanden hatte. Theo stöhnte zwar, dass er sich dazu hatte breitschlagen lassen, aber Edith war ausgesprochen guter Laune, wenn sie zum Lesezirkel gingen. Die »Odyssee« war neu für sie. Sie stürzte sich mit Hingabe in Homers Text und verliebte sich sofort in die »rosenfingrige Eos«, die sie von nun an zitierte, sobald sie einen rosa Streifen am Himmel sah. Der alteLehrer erinnerte Edith an ihren Vater. Nur hatte sie vor dem mehr Angst gehabt. In der Dorfschule von Neuhausen hatte er ihr mit dem Lineal noch härter auf die Finger geschlagen als den andern Kindern … Dabei war er stolz auf ihre Begabung und hatte sie später aufs Gymnasium und ins Konservatorium nach Königsberg geschickt. Wenn sie jetzt den freundlichen Dr. Axelrodt sah, erschien ihr auch der eigene Vater zugänglicher, und sie vermisste ihn mehr als in den ersten Jahren nach der Flucht.
»Ich weiß nicht«, sagte Theo eines Tages auf dem Heimweg zu Edith, die sich bei ihm untergehakt hatte. »Vielleicht wäre es besser, nicht mehr von der Pianistenkarriere zu träumen und an eine praktische Ausbildung zu denken. Den Umständen entsprechend etwas realistischer zu werden. Ich will mich nicht einmischen, Edith, aber vielleicht täte das euch beiden gut.«
»Ach, ihr«, brauste Edith auf. »Ihr seid alle so pragmatisch, so kleinkariert. Ohne Feuer, ohne Leidenschaft. Habt ihr eigentlich begriffen, was es heißt, dass wir noch leben? Es geht doch nicht, dass wir einfach nur wieder irgendwie unsere Brötchen verdienen und weitermachen, als ob nichts geschehen wäre.« Sie zog die Augenbrauen zusammen und entzog Theo ihren Arm. »Die Welt ist untergegangen, und ich bin noch
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