Brombeersommer: Roman (German Edition)
zu erklären versucht, dass das Sofa, auf dem er genächtigt hat, ihn um mindestens zehn Zentimeter zusammengestaucht haben muss.
Lynn wollte sich bei Karl einhängen, aber der sagte: »Ich mache noch ein paar Fotos«, und war froh, als sie vorausging.
Später vergrößerte er das Foto eines Schwarzdorns, dessen Äste bizarr aus dem Schnee ragten. Der Schnee, dachte Karl, wie der Schnee doch alles zudeckt. Ganz Russland deckte er zu, all die Toten, er erstickte jeden Schrei. Nur das Bild vom bräunlich verfärbten Blutstropfen auf Violas hellblauem Schuh deckte der Schnee nicht zu.
33
Das Alleinleben machte Karl keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil. Zu seinem eigenen Erstaunen machte es ihn glücklich.
Mit den Nachrichten im Radio begann der Tag. Er hörte sie im Bett, sah hinauf zur Decke und fragte sich, wie es kam, dass er noch lebte. Er fand darin keine Spur von Gerechtigkeit, aber so war es. Andere starben in dieser Minute im Koreakrieg. Korea war nicht so weit weg, wie man meinte. Ihm fiel ein, dass er heute die Plakatentwürfe fertig machen musste, die er einer Gruppe von Wiederaufrüstungsgegnern versprochen hatte. Er stand auf, ging ins Bad, wusch sich über der Wanne mit kaltem Wasser. Das Wasser kam so eisig aus der Leitung, dass das Zähneputzen unangenehm war. Zurück aus dem Bad setzte er Teewasser im Kessel auf, und sobald es brodelte, goss er etwas davon zum Vorwärmen in die bauchige Teekanne und etwas in die Waschschüssel, die er zum Rasieren brauchte. Dann leerte er die Kanne, brühte den Tee auf, wie Mrs. Richard es ihn gelehrt hatte, und rasierte sich in den drei, manchmal fünf Minuten, in denen der Tee zog. Das Schaben der Klinge übertönte die Stimmen im Radio. Karl wusch den Rasierpinsel aus, strich mit der rechten Hand über beide Wangen. Alles fühlte sich glatt an, auch der Hals. Er klopfte etwas Rasierwasser auf dieHaut und kämmte sich. Die Geheimratsecken waren, so schien es ihm, ein bisschen größer geworden. Er nahm eines der von der Wäscherei gestärkten und gebügelten weißen Hemden aus der Kommode, zog Hose und Sakko an, Anzüge trug er nicht gern, band den Schlips um, ohne dabei in den Spiegel zu sehen. Angezogen öffnete er die Fenster weit und atmete die eindringende Luft ein, manchmal wunderbar klar und frisch, manchmal neblig oder regenverhangen. Wenn der Wind eine Regenbö ins Zimmer warf, schloss Karl das Fenster wieder.
Zum Frühstück deckte er den niedrigen Wohnzimmertisch, quadratisch, aus gelacktem, hellem Holz. Er liebte einfache, klare Formen. Den hellen Rosinenstuten, den er auf dem Markt kaufte, bestrich er manchmal zur Abwechslung mit Quark, bevor er die Marmelade darauf gab. Das Frühstück war ein wunderbarer Moment. Noch waren die Menschen, bildete sich Karl gern ein, nicht wach genug, um Böses zu tun.
Er hatte von Mrs. Richard die Angewohnheit übernommen, den Tee mit Kandiszucker zu süßen. Die Kristalle klingelten leise, wenn sie beim Umrühren gegeneinanderstießen. Wenn man nicht zu viel rührte, wurde der Tee mit jedem Schluck etwas süßer, und wenn man am Boden der Tasse angekommen war, konnte man neuen Tee nachgießen, der die letzte verbliebene Süße aufnahm. Die moderne quadratische Pendeluhr tickte in die Stille hinein, hell und leicht surrend schlug sie die Stunde an. Karl nahm Mantel und Schal, Hüte trug er nicht, schloss die Haustür ab und machte sich auf den Weg ins Atelier.
Es gab kaum einen Morgen, an dem er sich nicht auf dieArbeit freute. Es war noch immer so, wie er es Martin Imrod erklärt hatte. Das konzentrierte Schreiben von Buchstaben beruhigte ihn. Die Gestaltung eines Entwurfs, die Wahl einer Schrift, die Schriftzeichen selbst, das Ziehen gerader Tusch- oder Bleistiftlinien, das Anrühren von Farbe in den kleinen, stapelbaren Porzellanschalen, das sorgfältige Ausfüllen von Farbflächen – das alles beruhigte das Zittern, das er in seinem Innern spürte. Eine Birke war er, eine russische Birke. Wenn er den feinen Pinsel zwischen seinen Lippen befeuchtete, um ihn zu spitzen, wenn er mit der Maßscheibe Proportionen berechnete, mit dem Zirkel Kreise schlug, wurde er ganz still.
34
Nach den heftigen Schneefällen im Februar 1953 schien der Winter von sich selbst genug zu haben. Die Schneeglöckchen drängten zwischen Inseln alt gewordenen Schnees durch, und bald tupften die Krokusse helles Gelb und Blau über das Graubraun der mulchig gewordenen Blätter vom vergangenen Jahr.
Viola wollte an einen
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