Brooklyn
eine weitere Diskussion über das Thema momentan für nicht erforderlich hielt, begriff sie, dass keine Antwort von ihr erwartet wurde. Also stand sie auf, und Mr. Brown stand ebenfalls auf, begleitete sie zur Tür und richtete ihrer Mutter die besten Grüße aus. Dann übergab er sie der Obhut Maria Gethings’, die einen Umschlag mit Geld für sie bereithielt.
Für den Abend hatte sich Eilis mit Nancy verabredet, um sich bei ihr die Gästeliste für das Hochzeitsessen anzuschauen und sich mit Nancy die Sitzordnung zu überlegen. Sie berichtete verwundert von ihrem Gespräch mit Mr. Brown.
»Vor zwei Jahren«, sagte sie, »wollte er mich nicht einmal sehen. Ich weiß, dass Rose ihn gefragt hatte, ob es möglicherweise eine Stelle für mich gebe, und er sagte einfach nein. Einfach nein.«
»Nun, es hat sich einiges geändert.«
»Und vor zwei Jahren schien Jim Farrell zu meinen, es sei seine Pflicht, mich im Athenaeum wie Luft zu behandeln, obwohl George ihn praktisch aufgefordert hatte, mit mir zu tanzen.«
»Du hast dich verändert«, sagte Nancy. »Du siehst anders aus. Alles an dir ist anders, nicht für diejenigen, die dich kennen, aber für die Leute in der Stadt, die dich nur vom Sehen kennen.«
»Was ist denn anders?«
»Du wirkst erwachsener und ernsthafter. Und in deinen amerikanischen Kleidern siehst du anders aus. Du hast ein gewisses Etwas an dir. Jim hört nicht auf, von uns immer neue Ausreden zu verlangen, damit wir alle zusammen ausgehen.«
Später, als Eilis mit ihrer Mutter vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee trank, erinnerte ihre Mutter sie daran, dass sie dieFarrells kannte, auch wenn sie seit Jahren nicht mehr in ihrer Wohnung gewesen war, die über dem Pub lag.
»Von außen sieht man es nicht so«, sagte sie, »aber das ist eine der schönsten Wohnungen in der ganzen Stadt. Die zwei Zimmer im Obergeschoss sind durch eine Doppeltür verbunden, und ich weiß noch, dass die Leute sich schon vor Jahren darüber ausließen, wie groß das Ganze ist. Und ich habe gehört, dass die Eltern nach Glenbrien ziehen, wo sie herkommt, in ein Haus, das ihr ihre Tante hinterlassen hat. Der Vater liebt Pferde, er ist dauernd auf Pferderennen, und er wird sich da draußen Pferde halten, habe ich jedenfalls gehört. Und Jim bekommt das ganze Haus.«
»Sie werden ihm sehr fehlen«, sagte Eilis. »Sie kümmern sich nämlich um das Pub, wenn er ausgehen will.«
»Ach, das wird bestimmt nicht von heute auf morgen passieren«, erwiderte ihre Mutter.
Oben fand Eilis auf ihrem Bett zwei Briefe von Tony, und sie erschrak fast, als ihr bewusst wurde, dass sie ihm immer noch nicht geschrieben hatte. Sie betrachtete die zwei Umschläge, seine Handschrift, stand bei geschlossener Tür im Zimmer und wunderte sich darüber, wie fern alles, was ihn betraf, zu liegen schien. Und nicht nur das, sondern auch alles übrige, was in Brooklyn passiert war, schien sich fast in nichts aufgelöst zu haben und war ihr nicht mehr sinnlich gegenwärtig – ihr Zimmer in Mrs. Kehoes Haus zum Beispiel oder ihre Abschlussprüfung oder die Straßenbahnfahrten vom Brooklyn College nach Hause oder der Tanzsaal, die Wohnung, in der Tony mit seinen Eltern und seinen drei Brüdern wohnte, oder der Verkaufsraum im Bartocci’s. Sie ließ das alles Revue passieren, als versuchte sie, etwas wiederherzustellen, was erst vor wenigen Wochen noch so voller Details, so real erschienen war.
Sie legte die Briefe auf die Kommode und beschloss, sie zu beantworten, wenn sie am folgenden Abend aus Dublin zurückgekehrt wäre. Sie würde Tony von den Vorbereitungen zu NancysKleidern, die sie und ihre Mutter sich gekauft hatten. Vielleicht würde sie ihm sogar vom Gespräch mit Mr. Brown erzählen und davon, dass sie ihm mitgeteilt hatte, sie würde nach Brooklyn zurückkehren. Sie würde so tun, als hätte sie diese zwei Briefe noch nicht erhalten, und sie würde sie jetzt auch nicht öffnen, überlegte sie, sondern damit warten, bis ihr eigener Brief fertig wäre.
Die Vorstellung, dass sie all das – die warmen, gemütlichen, nun wieder vertrauten Zimmer des Hauses – verlassen und nach Brooklyn zurückkehren und dann lange Zeit nicht wiederkommen würde, machte ihr jetzt angst. Als sie sich auf die Bettkante setzte, die Schuhe auszog und sich dann zurücklegte und die Arme hinter dem Kopf verschränkte, merkte sie, dass sie Tag für Tag nichts anderes getan hatte als jeden Gedanken an ihre Abreise und an das, was sie bei ihrer Ankunft
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