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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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aber sie waren höflich zu ihr, achteten immer darauf, ihr Platz zu machen und ihr die Befangenheit zu nehmen, ohne dass ihr jemals jemand anbot, sie nach Haus zu begleiten. Niemand stellte ihr irgendwelche persönlichen Fragen oder setzte sich häufiger als einmal neben sie. Die Klassen waren weit größer als in den Kursen, die sie zu Hause besucht hatte, und sie fragte sich, ob das der Grund war, warum die Dozenten so langsam vorgingen.
    Der Juradozent, der am Mittwoch immer nach der Pause die Klasse übernahm, war eindeutig Jude; zum einen meinte sie, der Name Rosenblum sei jüdisch, außerdem machte er oft Witze über das Jüdischsein und sprach mit einem ausländischen Akzent, der ihr nicht italienisch vorkam. Er redete große Töne, forderte die Studenten dauernd auf, sich vorzustellen, sie wären der Generaldirektor eines großen Unternehmens, größer noch als das von Henry Ford, und sie würden von einem anderen Unternehmen oder von der Bundesregierung verklagt werden. Dann lenkte erihre Aufmerksamkeit auf echte Fälle, in denen die Streitfragen, die er gerade skizziert hatte, tatsächlich verhandelt wurden. Er kannte die Namen der beteiligten Anwälte und die früheren Urteile und den Charakter der Richter, die über die Fälle entschieden, und die anderen Richter an den Berufungsgerichten.
    Eilis hatte keine Schwierigkeiten damit, Mr. Rosenblums Akzent zu verstehen, und selbst wenn er Grammatik- oder Syntaxfehler machte oder das falsche Wort verwendete, konnte sie ihm folgen. Wie die anderen Studenten machte sie sich Notizen zu dem, was er sagte, aber in ihrer Einführung in das Gesellschaftsrecht fand sie kaum einen der Fälle, die er erwähnte. Wenn sie ihrer Familie vom Brooklyn College schrieb, bemühte sie sich, ihrer Mutter und Rose einige der Witze nachzuerzählen, die Mr. Rosenblum zum besten gab und in denen es immer um einen Polen und einen Italiener ging; leichter war es, die Atmosphäre, die er schuf, zu beschreiben, zu schildern, wie sehr sich die Studenten auf den Mittwochabend nach der Pause freuten und wie gut es ihm gelang, gesellschaftsrechtliche Anfechtungsklagen wie einfache und aufregende Angelegenheiten klingen zu lassen. Aber sie machte sich Sorgen darüber, welche Examensfragen Mr. Rosenblum stellen würde. Eines Tages fragte sie nach Vorlesungsschluss einen ihrer Kommilitonen, einen jungen Mann mit Brille und lockigen Haaren, der einen freundlichen und zugleich lernbegierigen Eindruck machte.
    »Vielleicht sollten wir ihn besser fragen, auf welches Buch er sich bezieht«, sagte der junge Mann und sah vorübergehend besorgt aus.
    »Ich glaube nicht, dass er sich auf ein bestimmtes Buch bezieht«, sagte Eilis.
    »Sind Sie Britin?«
    »Nein, Irin.«
    »Ah, Irin«, sagte er und nickte lächelnd. »Also, bis nächste Woche. Vielleicht können wir ihn ja dann fragen.«

    Es wurde kalt, und an manchen Morgen war es eisig, wenn der Wind wehte. Eilis hatte ihr Juralehrbuch zweimal durchgelesen und sich dazu Notizen gemacht und sich ein zweites Buch dazugekauft, das Mr. Rosenblum empfohlen hatte. Es lag jetzt auf ihrem Nachttisch neben dem Wecker, der jeden Morgen um fünf vor acht klingelte, gerade wenn Sheila Heffernan unter die Dusche ging. Das Schönste an Amerika, dachte Eilis an diesen Morgen, war die Tatsache, dass die Heizung die ganze Nacht über angelassen wurde. Sie schrieb ihrer Mutter und Rose und Jack und den Jungs davon. Die Luft war wie Toast, sagte sie, selbst an den Wintermorgen, und wenn man aus dem Bett stieg, brauchte man nicht zu befürchten, mit den Füßen am Fußboden festzufrieren. Und wenn man während der Nacht aufwachte und draußen der Wind heulte, konnte man sich einfach in seinem warmen Bett behaglich umdrehen. In ihrem Antwortbrief fragte ihre Mutter, wie Mrs. Kehoe es sich leisten könne, die Heizung die ganze Nacht anzulassen, und Eilis erwiderte, dass nicht nur Mrs. Kehoe, die in keinerlei Hinsicht verschwenderisch war, es so machte, sondern jeder in Amerika, alle ließen ihre Heizung die ganze Nacht an.
    Während sie anfing, Weihnachtsgeschenke für ihre Mutter und Rose und Jack, Pat und Martin einzukaufen, und sich erkundigte, wie früh sie sie würde zur Post bringen müssen, damit sie rechtzeitig ankamen, überlegte sie, wie Weihnachten wohl an Mrs. Kehoes Küchentisch gefeiert werden würde; sie fragte sich, ob alle Mieterinnen sich gegenseitig beschenken würden. Ende November erhielt sie einen offiziellen Brief von Father Flood, in dem er sie

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