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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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weil es ihr so wenig bedeutete. Sie hatte sich nicht überlegt, wie es sein würde, nach Hause zu kommen, weil sie erwartet hatte, dass es leicht sein würde; sie hatte sich so sehr nach der Vertrautheit dieser Räume gesehnt, dass sie geglaubt hatte, sie wäre froh und erleichtert, sie wieder zu betreten, aber statt dessen konnte sie an diesem ersten Morgen nur die Tage bis zu ihrer Abreise zählen. Sie fühlte sich dadurch fremd und schuldig; sie kuschelte sich im Bett zusammen und schloss die Augen in der Hoffnung, einschlafen zu können.
    Ihre Mutter weckte sie und sagte, es sei fast Teezeit. Sie hatte vermutlich fast sechs Stunden geschlafen und wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder einzuschlafen. Ihre Mutter sagte ihr, es gebe heißes Wasser, falls sie baden wolle. Eilis machte ihre Koffer auf und fing an, Sachen im Kleiderschrank aufzuhängen und andere in die Kommode zu räumen. Sie fand ein Sommerkleid, das nicht allzu zerknittert aussah, und eine Strickjacke und saubere Unterwäsche und ein Paar Schuhe mit flachen Absätzen.
    Als sie, frisch gebadet und in sauberen Sachen, in die Küche kam, schaute ihre Mutter sie leicht missbilligend von oben bis unten an. Eilis kam der Gedanke, dass sie vielleicht etwas zu bunt angezogen war, aber sie hatte keine dunkleren Sachen dabei.
    »Die ganze Stadt fragt nach dir«, sagte ihre Mutter. »Du lieber Gott, selbst Nelly Kelly hat nach dir gefragt. Ich hab sie an der Tür ihres Ladens stehen sehen, und sie hat mich regelrecht angebrüllt. Und alle deine Freundinnen wollen, dass du bei ihnen vorbeischaust,aber ich habe ihnen gesagt, sie sollten besser warten, bis du dich hier eingerichtet hast.«
    Eilis fragte sich, ob ihre Mutter schon immer diese Art zu sprechen gehabt hatte, die keine Antwort zu erwarten schien, und plötzlich ging ihr auf, dass sie bis dahin selten mit ihr allein gewesen war, dass immer Rose zwischen ihr und ihrer Mutter gestanden hatte, Rose, die beiden immer viel zu erzählen gehabt hatte, Fragen stellte, Kommentare abgab und Meinungen äußerte. Es musste auch für ihre Mutter schwierig sein, und es wäre am besten, ein paar Tage abzuwarten und zu sehen, ob ihre Mutter nicht vielleicht doch Interesse für ihr Leben in Amerika aufbringen würde, zumindest so viel, dass sie allmählich auf Tony zu sprechen kommen und ihrer Mutter sagen könnte, dass sie ihn nach ihrer Rückkehr heiraten würde.
    Sie saßen am Esstisch und gingen alle Beileidsbriefe und Messkarten durch, die sie in den Wochen nach Rose’ Tod erhalten hatten. Eilis’ Mutter hatte Gedächtniskarten drucken lassen mit der Photographie einer strahlenden, eleganten Rose, ihrem Alter und ihrem Todesdatum sowie mit kurzen Gebeten unten und auf der Rückseite. Die mussten jetzt verschickt werden. Außerdem mussten aber für diejenigen, die Briefe geschrieben hatten oder persönlich vorbeigekommen waren, einige handschriftliche Zeilen oder auch längere Briefe beigefügt werden. Eilis’ Mutter hatte die Gedächtniskarten in drei Stapel geteilt: Bei dem einen brauchten lediglich Name und Adresse auf den Umschlag geschrieben und die Karte hineingesteckt zu werden, bei dem zweiten mussten ein paar Zeilen oder ein Brief von ihr beigefügt werden, und bei dem letzten musste Eilis ein paar Zeilen oder einen ganzen Brief schreiben. Eilis erinnerte sich vage, dass es auch nach dem Tod ihres Vaters so gewesen war, aber damals hatte Rose sich um alles gekümmert, und sie selbst war nicht aktiv daran beteiligt gewesen.
    Ihre Mutter wusste manche der Beileidsbriefe fast auswendig, und sie hatte eine Liste aller Leute, die persönlich vorbeigekommenwaren, und ging sie jetzt für Eilis langsam durch und versah sie mit Kommentaren über manche, die zu oft gekommen oder zu lang geblieben waren oder andere, die zu viel getratscht oder durch irgendeine Bemerkung Anstoß erregt hatten. Außerdem waren Cousins ihrer Mutter, die noch hinter Bree wohnten, zusammen mit irgendwelchen Nachbarn gekommen, ungehobelten Leuten vom Land, und ihre Mutter hoffte, sie nie wieder zu Gesicht zu bekommen – weder die Cousins noch deren Nachbarn.
    Dann waren eines Abends, sagte sie, Dora Devereux aus Cush Gap und deren Schwester Statia gekommen, und die beiden hatten überhaupt nicht aufgehört von Leuten zu erzählen, von denen kein Mensch im Zimmer je was gehört hatte. Sie hatten jede eine Messkarte dagelassen, sagte ihre Mutter, und sie würde ihnen ein paar Zeilen schreiben und sich für den Besuch bedanken, aber

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