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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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näherte, bemerkte sie eine Frau, die ihr Kleid, ihre Strümpfe, Schuhe und dann ihre gebräunte Haut musterte, und sie begriff amüsiert, dass sie in dieser Gegend wie ein Filmstar wirken musste. Sie berührte ihren Finger da, wo ihr Ehering gewesen war, und nahm sich vor, dass sie, sobald ihre Mutter schlafen gegangen wäre, Tony schreiben und einen Weg finden würde, den Brief am nächsten Morgen einzuwerfen, ohne dass ihre Mutter davon etwasmerkte. Oder vielleicht, dachte sie, wäre es auch eine gute Möglichkeit, ihre Mutter, falls sie ihre Briefe an Rose nicht gesehen hatte, auf behutsame Weise in das Geheimnis einzuweihen, dass in Amerika jemand auf sie wartete.
    Als sie am nächsten Tag mit dem Kranz zum Friedhof aufbrachen, blieb jeder, den sie unterwegs trafen, auf ein paar Worte stehen. Alle machten Eilis Komplimente wegen ihres guten Aussehens, aber nicht zu überschwenglich oder in einem zu leichtfertigen Ton, da sie sahen, dass sie und ihre Mutter auf dem Weg zum Grab ihrer Schwester waren.
    Erst als sie die Hauptallee des Friedhofs entlang in Richtung des Familiengrabs gingen, wurde Eilis wirklich bewusst, wie sehr ihr vor diesem Augenblick gegraut hatte. Es tat ihr leid, in den letzten Tagen so gereizt auf ihre Mutter reagiert zu haben, und jetzt ging sie langsam und hakte sich bei ihr unter, während sie mit der anderen Hand den Kranz hielt. Ein paar Leute blieben stehen und sahen sie an, als sie sich dem Grab näherten.
    Es lag ein anderer, fast verwelkter Kranz da, den ihre Mutter entfernte; dann stellte sie sich, dem Grabstein zugewandt, neben Eilis.
    »So, Rose«, sagte ihre Mutter leise, »hier ist Eilis, sie ist jetzt wieder zu Hause, und wir haben dir frische Blumen mitgebracht.«
    Eilis wusste nicht, ob ihre Mutter erwartete, dass sie ebenfalls etwas sagte, aber da sie inzwischen weinte, war sie ohnehin nicht sicher, ob sie etwas Verständliches herausbringen würde. Sie fasste ihre Mutter bei der Hand.
    »Ich bete für dich, Rose, und denke an dich«, flüsterte Eilis, »und ich hoffe, du betest für mich.«
    »Sie betet für uns alle«, sagte ihre Mutter. »Rose ist im Himmel und betet für uns alle.«
    Während sie schweigend am Grab standen, war Eilis die Vorstellung, dass Rose unter der Erde lag, von Finsternis umgeben, fast unerträglich. Sie versuchte, sich ihre Schwester zu vergegenwärtigen,wie sie zu Lebzeiten gewesen war, das Licht in ihren Augen, ihre Stimme, die Art, wie sie sich eine Strickjacke über die Schultern legte, wenn sie einen Luftzug verspürte, die Weise, wie sie mit ihrer Mutter umging, es schaffte, sie selbst für die winzigste Kleinigkeit in ihrem eigenen und Eilis’ Leben zu interessieren, als ob sie dieselben Freundinnen, dieselben Interessen hätte, dieselben Erfahrungen machte. Eilis konzentrierte sich auf Rose’ Geist und bemühte sich, nicht daran zu denken was gerade mit Rose’ Körper geschah, direkt unter ihnen in der feuchten Erde.
    Zurück gingen sie über die Summerhill und dann am Fair Green vorbei zur Back Road, weil ihre Mutter sagte, sie habe keine Lust, an dem Tag noch mehr Leute zu sehen, aber Eilis hatte den Verdacht, dass sie nicht wollte, dass irgend jemand Eilis sah, der sie fragen könnte, ob sie ausgehen wollte, oder sie sonst veranlassen könnte, von ihrer Seite zu weichen.
    Als Nancy und Annette am Abend vorbeikamen, fiel Eilis Nancys Verlobungsring sofort ins Auge. Nancy erklärte, sie sei seit zwei Monaten mit George verlobt, habe aber Eilis wegen Rose nicht darüber schreiben wollen.
    »Aber es ist wunderbar, dass du zur Hochzeit da sein wirst. Deine Mutter freut sich sehr.«
    »Wann ist denn die Hochzeit?«
    »Am Freitag, den 27. Juni.«
    »Aber da bin ich doch schon wieder weg«, sagte Eilis.
    »Deine Mutter hat gesagt, du würdest noch hier sein. Sie hat die Einladung in euer beider Namen angenommen.«
    Ihre Mutter kam mit einem Tablett und Tassen und Untertassen und einer Teekanne und Kuchen ins Zimmer.
    »Da seid ihr also«, sagte sie. »Es ist schön, euch zu sehen, wieder ein bisschen Leben im Haus zu haben. Die arme Eilis hatte von ihrer alten Mutter genug. Und wir freuen uns auf die Hochzeit, Nancy. Wir werden uns dafür ganz elegant anziehen müssen. Das hätte Rose so gewollt.«
    Sie verließ das Zimmer, bevor irgend jemand etwas sagen konnte. Nancy schaute Eilis an und zuckte die Achseln. »Jetzt musst du wohl kommen.«
    Eilis rechnete aus, dass die Hochzeit vier Tage nach dem geplanten Tag ihrer Abreise stattfinden

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