Brooklyn
sie nicht dazu ermutigen, demnächst wieder vorbeizuschauen. Aber auch Nora Webster war gekommen, zusammen mit Michael, bei dem die Jungen auf der Schule gelernt hatten, und das waren die nettesten Leute der ganzen Stadt. Die, sagte sie, könnten von ihr aus gern wiederkommen, aber da sie kleine Kinder hatten, würden sie das wohl nicht tun.
Während ihre Mutter Listen weiterer Leute vorlas, Namen, die sie seit ihrer Abreise nach Amerika nicht mehr gehört oder an die sie nicht mehr gedacht hatte, konnte sich Eilis des Lachens kaum erwehren. Als ihre Mutter eine alte Frau erwähnte, die unten in der Nähe der Folly wohnte, konnte sich Eilis nicht mehr zusammennehmen. »Du lieber Gott, die lebt noch?«
Ihre Mutter machte ein bedrücktes Gesicht, setzte sich dann die Brille wieder auf und begann, nach einem Brief zu suchen, den sie verlegt hatte; er stammte vom Präsidenten des Golfklubs, der erklärte, Rose sei ein äußerst geschätztes Mitglied gewesen und werde eine schmerzhafte Lücke hinterlassen. Als sie ihn endlich fand, warf sie Eilis einen strengen Blick zu.
Jeder Brief, ob kurz oder lang, den Eilis schrieb, musste ihrerMutter vorgelegt werden, die dann oft verlangte, dass er neu geschrieben oder um einen Absatz am Ende ergänzt wurde. Und in ihren eigenen sowie in Eilis’ Briefen sollte ausdrücklich betont werden, dass sie, da Eilis jetzt zu Hause sei, jede Menge Gesellschaft habe und auf weitere Besuche verzichten könne.
Eilis staunte darüber, wie unterschiedlich die einzelnen Leute ihr Beileid zum Ausdruck gebracht hatten, sobald sie über die ersten ein, zwei Sätze hinausgekommen waren. Ebenso versuchte ihre Mutter in ihren Antworten, Ton und Inhalt zu variieren und jedesmal etwas zu schreiben, was dem jeweiligen Adressaten entsprach. Aber es ging langsam voran, und am Ende des ersten Tages war Eilis immer noch nicht aus dem Haus gekommen und hatte auch keine Zeit für sich gehabt. Und die Arbeit war noch nicht einmal zur Hälfte erledigt.
Am folgenden Tag konzentrierte sie sich aufs Schreiben und sagte ihrer Mutter mehrmals, sie würden die Antwortbriefe niemals bewältigen, wenn sie weiter soviel redeten oder jeden eingegangenen Brief noch einmal durchlasen. Trotzdem war ihre Mutter langsam und erklärte, schließlich schreibe sie die meisten Briefe, nicht Eilis, aber Eilis müsse sie anschließend alle durchschauen. Außerdem konnte sie nicht umhin, regelmäßig Kommentare über die Adressaten abzugeben, auch wenn es sich um Leute handelte, die Eilis überhaupt nicht kannte.
Eilis versuchte ein paarmal das Thema zu wechseln und schlug ihrer Mutter vor, an einem der nächsten Tage vielleicht zusammen nach Dublin oder mit dem Zug für einen Nachmittag nach Wexford zu fahren. Ihre Mutter aber sagte, sie sollten erst einmal warten, jetzt müssten zunächst mal diese Briefe geschrieben und abgeschickt werden, und dann würden sie sich Rose’ Zimmer vornehmen und ihre Kleider aussortieren.
Als sie am zweiten Tag beim Tee saßen, erklärte Eilis ihrer Mutter, wenn sie sich nicht bald bei einigen ihrer Freundinnen meldete, wären sie beleidigt. Sie war fest entschlossen, sich einenfreien Tag zu erkämpfen und nicht unter der strengen und zunehmend mürrischeren Aufsicht ihrer Mutter Briefe zu schreiben und Umschläge zu adressieren, um dann gleich danach Rose’ Kleider zu sichten.
»Morgen wird der Kranz geliefert«, sagte ihre Mutter, »da gehen wir also auf den Friedhof.«
»Ja, gut, dann treffe ich mich mit Annette und Nancy also morgen abend«, sagte Eilis.
»Weißt du, sie waren hier und haben gefragt, wann du zurückkommst. Ich habe sie abgewimmelt, aber wenn du sie sehen willst, dann solltest du sie hierher einladen.«
»Vielleicht tu ich das jetzt«, sagte Eilis. »Wenn ich Nancy ein paar Zeilen dalasse, kann sie sich mit Annette in Verbindung setzen. Geht Nancy immer noch mit George? Sie sagte, sie würden sich verloben.«
»Sie soll dir alle Neuigkeiten selbst erzählen«, sagte ihre Mutter und lächelte.
»George wäre eine prima Partie«, sagte Eilis. »Und gut sieht er auch noch aus.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte ihre Mutter. »Die könnten sie in ihrem Laden ohne weiteres zur Sklavin machen. Und die alte Mrs. Sheridan ist eine ganz Vornehme. Ich käme mit der überhaupt nicht klar.«
Kaum war sie auf der Straße, fühlte sich Eilis erleichtert, und da es ein schöner warmer Abend war, hätte sie mit Vergnügen kilometerweit laufen können. Während sie sich Nancys Haus
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