Brooklyn
Inhalt auf den Fußboden kippte. Sie wollte sichergehen, dass sie ihre Briefe an Rose fand, falls sie hier waren, bevor ihre Mutter sie in die Hand bekam. Sie fand alte Medaillen und Broschüren, sogar Haarnetze und Haarnadeln, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren, und gefaltete Taschentücher und ein paar Photos, die Eilis beiseite legte, sowie eine große Anzahl von Golf-Scorekarten. Aber von den Briefen war weder in dieser noch in einer der anderen Schubladen die geringste Spur zu sehen.
»Das meiste davon ist Müll, Mama«, sagte sie. »Am besten behalten wir nur die Photos und werfen den Rest weg.«
»Ah, das muss ich mir erst noch alles genau ansehen, aber komm jetzt her und hilf mir, die Schals zusammenzufalten.«
Am nächsten Morgen weigerte sich Eilis, zur Schneiderin zu gehen, und erklärte ihrer Mutter nachdrücklich ein für allemal, dass sie nicht beabsichtige, irgendwelche Kleider oder Mäntel ihrer Schwester zu tragen, wie elegant sie auch sein oder wieviel sie auch gekostet haben mochten.
»Soll ich sie also wegwerfen?«
»Viele Leute würden die Sachen mit Kusshand nehmen.«
»Aber dir sind sie nicht gut genug?«
»Ich habe meine eigenen Sachen.«
»Ich werd sie im Kleiderschrank lassen für den Fall, dass du es dir anders überlegst. Wenn man sie weggibt, könnte es leicht passieren, dass man sie am Sonntag bei der Messe an irgendeiner wildfremden Person wiedersieht. Das wäre ja wirklich was.«
Eilis hatte auf dem Postamt genügend Briefmarken und spezielle Kuverts für Briefe nach Amerika gekauft. Sie schrieb Tony, sie würde ein paar Wochen länger bleiben, und der Schiffahrtsgesellschaft, dass sie den Termin ihrer Überfahrt verschieben wollte. Miss Fortini und Mrs. Kehoe wollte sie erst dann von ihrer verspäteten Rückkehr unterrichten, wenn das eigentlich geplante Datum nähergerückt wäre. Sie fragte sich, ob es klug wäre, als Ausrede irgendeine Krankheit anzuführen. Tony erzählte sie von dem Besuch an Rose’ Grab und von Nancys Verlobung und versicherte ihm, dass sie seinen Ring immer bei sich trug, so dass sie, wenn sie allein war, an ihn denken konnte.
Zur Mittagszeit packte sie ein Handtuch, ihren Badeanzug und ein Paar Sandalen in eine Tasche und ging zu Nancys Haus, wo George Sheridan sie abholen würde. Den Vormittag über war es schön gewesen, die Luft süß und still, und es war heiß, fast zum Ersticken, als sie im Haus auf Georges Ankunft warteten. Als sie die Hupe des Kombis hörten, mit dem er Waren auslieferte, gingen sie nach draußen. Eilis war überrascht, Jim Farrell zu sehen, der ihr den Wagenschlag aufhielt und dann neben ihr einstieg, damit sich Nancy vorn neben George setzen konnte.
Eilis nickte Jim kühl zu und rückte von ihm so weit ab, wie es nur irgend ging. Am vergangenen Sonntag hatte sie ihn bei der Messe gesehen, ihn aber wohlweislich gemieden. Als sie aus der Stadt hinausfuhren, wurde ihr klar, dass nicht Annette, sondern er sie begleitete; sie war wütend auf Nancy, weil sie es ihr nicht gesagt hatte. Wenn sie es gewusst hätte, wäre sie nicht mitgekommen.Noch wütender wurde sie, als George und Jim eine Diskussion über irgendein Rugbyspiel anfingen, während der Wagen die Osbourne Road entlang in Richtung Vinegar Hill fuhr und dann rechts in Richtung Curracloe abbog. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, die zwei Männer zu unterbrechen und ihnen zu erzählen, dass es auch in Brooklyn einen Vinegar Hill gab, aber dass er keinerlei Ähnlichkeit mit dem Vinegar Hill hatte, von dem aus man einen Blick auf Enniscorthy hatte, obwohl er nach diesem benannt war. Egal, was, dachte sie, nur um sie zum Schweigen zu bringen. Statt dessen beschloss sie, dass sie kein einziges Wort an Jim Farrell richten, ja nicht einmal seine Anwesenheit zur Kenntnis nehmen würde, und dass sie, sobald eine Gesprächspause eintrat, ein Thema anschneiden würde, zu dem er garantiert nichts beitragen konnte.
Als George den Wagen geparkt hatte und George und Nancy vor ihnen den Plankensteg entlanggingen, der über die Dünen zum Strand führte, fragte Jim Farrell sie sehr leise, wie es ihrer Mutter gehe, und sagte, er und seine Mutter und sein Vater seien zu Rose’ Totenmesse gegangen. Seine Mutter, sagte er, die sie vom Golfklub her kannte, hatte sie sehr gemocht. »Alles in allem«, sagte er, »war es das Traurigste, was in der Stadt seit langem passiert ist.«
Sie nickte. Falls er wollte, dass sie eine gute Meinung von ihm bekam, dachte sie, dann musste sie
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