Brother Sister - Hoert uns einfach zu
etwas hinten am Schuppen, und im nächsten Moment, sah ich Naomi auf den Wald zurennen.
»Warte, Naomi!«, rief ich.
Sie blieb stehen und drehte sich zu mir um.
»Was willst du von mir?«, rief sie. »Ich bin doch gar nicht deine Schwester, du perverses Schwein!«
Sie ging zwei Schritte auf mich zu, dann warf sie einen Blick zur Seite, also in die offene Schuppentür. Da muss sie dann wohl was gesehen haben. Jedenfalls machte sie einen Buckel wie eine Katze, schrie auf und rannte weiter.
Warum hatte sie so geschrien? Was hatte sie gesehen? Dann fiel es mir wieder ein. Craigs Fahrrad! Das hatte ich ja im Schuppen versteckt. Es stand nahe der Tür. Der eigenartige Lenker und die Folie zwischen den vorderen Speichen mit nem schleimgrünen Smiley, der die Zunge rausstreckt – Craigs Markenzeichen … Sie musste es gesehen haben.
Also bin ich ihr nachgerannt. Ich war barfuß und trat überall auf Zweige und Steine und so Zeug. Das tat weh und brachte mich immer wieder aus dem Gleichgewicht. Aber ich musste die ganze Zeit daran denken, dass ich sie unbedingt einholen musste, damit sie nicht überall rumerzählte, was an diesem Abend passiert war. Also was sie über Asheley und mich dachte. Das war zwar reiner Blödsinn, aber die Leute würden es trotzdem glauben. Sie sollte auch nichts über Craigs Fahrrad erzählen. Das würde eine Menge unangenehme Fragen nach sich ziehen. Davor musste ich uns schützen. Hauptsächlich Asheley. Deswegen war mir egal, was mit meinen Füßen passierte. Ich rannte, so schnell ich konnte, und wurde immer schneller.
Sie war noch ein Stück voraus, und statt dem Weg zu folgen, sprintete sie querfeldein durch den Wald. Irgendwann sprang sie über einen Baumstumpf. Dabei muss sie mit dem Fuß hängen geblieben sein, denn sie ging kopfüber zu Boden und blieb so lange liegen, dass ich zu ihr aufholen konnte.
Und dann … Sie wissen ja, was dann passierte.
Ja. Auf dem zweiten Foto, das ist sie.
Nein! Ich will es nicht noch mal sehen! Ich kann auch so bestätigen, dass sie es ist.
Als ich zum Haus zurückging, war ich total erledigt. Spuren zu beseitigen, ist mir gar nicht erst in den Sinn gekommen. Ash saß immer noch wie festgefroren auf dem Boden. Sie hatte sich nicht gerührt, solange ich weg gewesen war. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Blutfleck, den Naomi auf dem Parkett hinterlassen hatte.
Als sie hörte, dass ich die Terrassentür zuschob, sah sie zu mir auf. Völlig fertig, mit leerem Blick und wie gelähmt.
Ich wollte sie aufheitern, aber als ich auf sie zuging, fuchtelte sie abwehrend mit den Armen und rief: »Nein! Nein, nein, nein! Ich muss … nachdenken. Ich muss …«
»Na gut«, sagte ich und zog mich zurück. »Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.«
Ich ging an ihr vorbei und setzte mich hinter ihr auf den Boden, aber nicht zu nahe. Dann legte ich ihr die Hand auf den Rücken, damit sie spürte, dass ich bei ihr war und mich um sie kümmern würde.
Asheley
Ich fühlte mich, als ob … Ich meine, ich hatte ja gar nichts getan. Ich hatte niemanden umgebracht. Aber das Gesicht, das Naomi machte, bevor sie an diesem Abend aus dem Haus rannte … Als ob sie mich für schuldig hielt. Dabei war sie doch meine Freundin! Und nachdem sie mich so angesehen hatte, war Will verschwunden. Da dachte ich … Würden alle anderen mich nicht auch für schuldig halten? War ich es vielleicht sogar? Und falls ja: Was würde man mit mir machen, wenn es rauskam?
Ich konnte es mir also nicht leisten, die Nerven zu verlieren, traurig zu sein und so, sondern musste irgendwie verhindern, dass alles rauskam. Ich war quasi gezwungen, so zu tun, als wär ich jemand anders. Aber traurig war ich auch. Und ich hatte Angst. Alles in allem war ich also ziemlich durch den Wind. Darum hab ich …
Also vielleicht zwei Tage nach dem Abend mit Naomi kamen Luke Pfifer, Toby Smith und Ricky Thomson ins Milky Moo. Sie kicherten und flüsterten miteinander. Aber das war nichts Neues, das taten sie andauernd. Toby hatte eine Pilotenbrille aus dem II. Weltkrieg auf dem Kopf und spielte damit rum, nahm sie ab, setzte sie wieder auf und so weiter. Ich dachte, dass sie darüber kicherten. Es hätte ihnen ähnlich gesehen. Je bescheuerter etwas ist, desto sicherer kann man davon ausgehen, dass sie es total cool finden, vor allem wenn es mit Krieg zu tun hat. In unserer Stadt mit all den reichen Linksliberalen ist man in punkto Protest nämlich ganz weit vorn, wenn man aufs Militär und
Weitere Kostenlose Bücher