Broughton House - Haus der Sehnsucht
Schluss machen, Sasha“, verkündete sie und legte den Hörer auf. „Was spionierst du mir nach?“, fuhr sie Eleanor an. „Ich bin keine Gefangene.“
Eleanor ging nicht auf ihre Bemerkung ein. „Woher stammt das Kleid, Vanessa?“, fragte sie stattdessen ruhig.
Sie kannten beide die Antwort. Es war das gleiche Modell, das Vanessa in der Designer-Boutique anprobiert hatte. Das Etikett war noch dran, wahrscheinlich auch der Sicherheitsknopf. Sie musste zwei Kleider mit in die Kabine genommen haben.
„Vanessa?“, wiederholte sie.
Schmollend verzog das Mädchen die Lippen. „Also gut, ich habe es mitgehen lassen“, gab sie gereizt zu. „Weshalb nicht? Alle tun das. Die Geschäfte setzen sogar die Preise hinauf, weil sie wissen, dass so etwas vorkommt. Das macht überhaupt nichts.“
Eleanor sah das Mädchen ungläubig an. „Du hast ein Kleid gestohlen und behauptest, es macht nichts?“
„Ich habe es nicht gestohlen, sondern nur in meine Tasche gesteckt“, erklärte Vanessa und lächelte selbstgefällig. „Du bist damit weggegangen.“
Eleanor starrte sie an und erinnerte sich plötzlich, dass Vanessa sie gebeten hatte, ihre Umhängetasche zu halten und draußen vor dem Geschäft auf sie zu warten. Sie war so wütend, dass sie vorsichtshalber nichts sagte, sondern das Kleid schweigend an sich nahm.
„He, was machst du da?“, fragte Vanessa. „Es gehört mir!“
„Nein, es gehört dem Laden, und dorthin wird es zurückkehren“, erklärte Eleanor heftig. „Wie konntest du das tun, Vanessa?“, fügte sie bestürzt hinzu. „Dein Vater …“
„Natürlich musst du Dad mit hineinziehen, nicht wahr? Ich wette, du kannst es gar nicht erwarten, ihm davon zu erzählen. Nun, es ist keine große Sache. Alle tun so was.“
„Vanessa, das war Diebstahl!“, protestierte Eleanor. „Bist du dir nicht über die Folgen klar? Sich einfach etwas zu nehmen …“ Einen Moment überwältigten sie die Gefühle.
„Das ist typisch“, schrie Vanessa sie an. „Ich darf mir nichts nehmen. Aber Leute wie du dürfen es, nicht wahr?“
„Was willst du damit sagen“, fragte Eleanor streng. „Ich habe in meinem Leben noch nichts gestohlen.“
„Du hast mir meinen Vater gestohlen“, antwortete Vanessa verbittert.
Eleanor traute ihren Ohren nicht und setzte sich auf das Bett.
„Ihr Großen, ihr Erwachsenen …“, schnarrte Vanessa. „Ihr tut einfach, wozu ihr Lust habt. Oder etwa nicht? Ihr nehmt euch, was ihr wollt. Und wenn wir dasselbe tun, spielt ihr euch auf und behauptet, es wäre falsch. Nun …“
„Vanessa! Glaubst du das wirklich? Bist du tatsächlich der Meinung, dass ich dir deinen Vater weggenommen habe? Deine Eltern waren schon lange geschieden, als Marcus und ich uns kennenlernten.“
„Ja. Aber jetzt ist alles anders. Du willst alles verändern. Ich wette, du wünschtest, ich wäre tot oder im Gefängnis. Du tust, als wolltest du mich hier haben. In Wirklichkeit stimmt das gar nicht. Ich kenne so etwas von anderen. Einige Klassenkameradinnen von mir haben auch eine Stiefmutter. Erst waren die Frauen wahnsinnig nett. Sie brachten Geschenke mit und gaben sich riesige Mühe. Das war natürlich, bevor sie die Väter heirateten. Nach der Heirat änderte sich alles schlagartig. Sie bekamen selber ein Baby, fingen an, sich über den Lärm der Teenager zu beschweren, und behaupteten, es wäre nicht genügend Platz für alle im Haus.“
Benommen erinnerte Eleanor sich, dass Vanessa dasselbe zu Tom und Gavin gesagt hatte. Damals hatte sie es für reine Bosheit gehalten.
„Und Mum ist genauso schlimm“, fuhr Vanessa heftig fort. „Sie konnte es gar nicht erwarten, mich bei euch abzugeben und dann schnellstens nach Amerika zu fliegen.“
Eleanor betrachtete sie hilflos. Wäre Vanessa ihre Tochter gewesen, hätte sie das Mädchen jetzt in die Arme genommen. Sie hätte sie an sich gedrückt, ihr versichert, wie sehr sie sie liebte und dass sie immer ein wichtiger Teil ihres Lebens bleiben würde. Aber Vanessa war nicht ihr Kind, sie war Marcus’ Tochter. Seine Liebe und Anerkennung wollte sie.
Ein Blick auf Vanessas feindselige Miene bestätigte ihr, dass Vanessa gewiss keinen körperlichen Beweis ihrer Zuneigung oder ihres Mitgefühls wünschte.
Waren die Gefühle des Mädchens aufrichtig oder nur ein Mittel, um von dem eigentlichen Thema abzulenken?
Ich darf kein Risiko eingehen, überlegte Eleanor.
„Ich muss das Kleid in den Laden zurückbringen, Vanessa“, begann sie.
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