Broughton House - Haus der Sehnsucht
bekommen, das war nicht möglich. Wie ein Tier in einem Käfig kam sie sich vor und war halb verrückt vor Zorn, dass sie die Uhr nicht zurückdrehen und die fatale Zeugung ungeschehen machen konnte. Wie gern hätte sie den Bruchteil der Sekunde ausgelöscht, in der dieses Leben entstanden war, das jetzt ihr eigenes bedrohte.
Doch neben dem Zorn wuchs ein anderes Gefühl in ihr, ein so heftiger, unerträglicher Schmerz, dass sie am liebsten ängstlich davongelaufen wäre, um sich davor zu schützen.
Aber bei wem hätte sie Schutz suchen sollen? Gewiss nicht bei Ben, der ihr mit seiner Reaktion auf die Schwangerschaft seiner Schwester bestätigt hatte, was sie längst wusste. Er würde jede Vaterschaft ablehnen. Auch nicht bei ihren Eltern, die selber Probleme hatten, auf die sie bis vor Kurzem niemals gekommen wäre.
Ob es stimmte, dass ihre Mutter, die immer so zufrieden mit ihrem Leben gewesen zu sein schien, sich insgeheim nach etwas anderem gesehnt hatte? Hatte Heather die Geburt der Tochter vielleicht sogar bedauert?
Schuldbewusst erinnerte Zoe sich, dass sie die Mutter wegen ihres fehlenden Ehrgeizes manchmal verachtet hatte, obwohl sie sie liebte.
Mehrere Kollegen sprachen Zoe darauf an, wie blass sie wäre. Ihre Arbeit war sowohl körperlich als auch geistig ganz schön anspruchsvoll. Normalerweise liebte Zoe diese Herausforderung. Doch heute wurde der Druck beinahe zu groß, und sie war müde und erschöpft.
Mittags, als sie sich mit ihrer Mutter traf, hatte sie die Klinik immer noch nicht angerufen.
Heather war nicht anzumerken, ob sie unter dem Streit mit ihrem Mann gelitten hatte, dessen Zeuge Zoe gestern zufällig geworden war. Im Gegenteil. Sie wirkte jünger, glücklicher und sprühender als je zuvor.
Sie ist auch anders gekleidet als sonst, stellte Zoe fest. Statt eines eleganten zweiteiligen Seidenkleids trug sie gut sitzende elastische Jeans, die ihre schlanke Figur betonten, und ein weißes T-Shirt, das sie in den Taillenbund geschoben hatte. Ihr Blazer stand offen, und ihr Haar war lässig zerzaust.
Nicht sie, die Tochter, sondern ihre Mutter zog die diskreten Blicke der Kellner und der übrigen männlichen Gäste auf sich, erkannte Zoe, während sie sich setzten.
„Ich kann es gar nicht fassen“, verkündete die Mutter, sobald sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. „Gestern habe ich die Nachricht bekommen, dass ich angenommen worden bin. Du weißt schon, bei dem Lehrgang, für den ich mich beworben hatte. Ich habe versucht, dich sofort anzurufen, um es dir zu erzählen, aber du warst nicht zu Hause.“
Nein, ich war wahrscheinlich auf dem Weg zu dir, überlegte Zoe, sagte aber nichts. Stattdessen lächelte sie und versuchte, die Begeisterung ihrer Mutter zu teilen. Gleichzeitig fragte eine kleine Stimme tief in ihrem Innern, weshalb Heather nicht merkte, wie niedergeschlagen und blass sie war – wie anders als sonst.
„Dein Vater ist allerdings dagegen“, fuhr die Mutter fort und verzog das Gesicht. „Ich habe ihm gesagt, dass ich unbedingt etwas für mich tun muss, dass ich selber etwas erreichen möchte. Ich dachte, er würde es verstehen. Schließlich habe ich immer Verständnis dafür gehabt, wie wichtig ihm die eigene Karriere ist. Du begreifst das bestimmt, Zoe. Ich habe dich die letzten Jahre so beneidet … Du hast mir klargemacht, wie wenig ich im Leben erreicht habe.“
Wie wenig? Betrachtete die Mutter sie, die Tochter, nicht als Leistung? Zählte sie gar nicht? War sie nicht wichtig?
„Natürlich hatte ich dich“, fügte die Mutter hinzu, als hätte sie ihre Gedanken erraten. „Aber du bist inzwischen selbstständig und brauchst mich nicht mehr.“
Doch, ich brauche dich, hätte Zoe gern eingewandt. Ich brauche dich sogar mehr als je zuvor im Leben. Aber die Worte wollten nicht heraus. Wie konnte sie so etwas aussprechen und damit ihren Egoismus und ihr Selbstmitleid verraten?
Es war, als versinke sie in einem tiefen Sumpf und könnte sich nicht daraus befreien.
Während sie schweigend dasaß, dem erregten Geplapper der Mutter zuhörte, ihre raschen, beinahe mädchenhaften Bewegungen beobachtete und das Interesse bemerkte, das Heather bei den männlichen Gästen erregte, erkannte Zoe, dass sie nicht nur Angst empfand, sondern auch Zorn. Als hätte die Mutter ihr die Schau gestohlen, indem sie ihr, der Tochter, die ungewohnte, unerwünschte Rolle einer passiven Zuschauerin zuwies.
Bisher hatte sie immer den Eindruck gehabt, dass ihre Mutter, ja dass beide
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