Broughton House - Haus der Sehnsucht
höhnisch: „Na, bist du jetzt zufrieden? Genau das wolltest du doch, nicht wahr?“
Sie durfte Vanessa nicht damit durchkommen lassen, das war Eleanor klar. Wenn sie es tat, würde sie noch mehr Probleme mit dem Mädchen erhalten, als sie jetzt schon hatte.
Sie holte tief Luft und trat einen Schritt vor. Hinter ihr heulte Tom lautstark und schimpfte heftig darüber, was Vanessa ihm angetan hatte. In der Diele entstand ein Geräusch. Eleanor achtete nicht darauf, sondern überlegte genau, was sie Vanessa sagen wollte.
Als sie einen Schritt vortrat, änderte sich plötzlich Vanessas triumphierende Miene, und ihr Gesicht nahm einen furchtsamen, beinahe unterwürfigen Ausdruck an.
„Nein, bitte nicht“, wimmerte sie. „Ich habe es nicht so gemeint … Bitte, schlag mich nicht!“
Sie schlagen? Eleanor blieb stehen, und es überlief sie eiskalt. Vanessa nahm doch nicht an …
„Um Himmels willen, Eleanor, was ist hier los? Man hört euch ja bis auf die Straße!“
Marcus … Erleichtert drehte Eleanor sich um. Doch Vanessa kam ihr zuvor. Sie schoss an ihr vorüber, warf sich ihrem Vater in die Arme und schluchzte hysterisch: „Daddy, Daddy … Sie soll mich nicht schlagen!“
Offensichtlich hat das Mädchen das schauspielerische Talent ihrer Mutter geerbt, überlegte Eleanor, als sie Marcus’ Blick bemerkte. Später, wenn sie allein waren, würde sie ihm alles erklären und sich nicht durch Vanessa in die Defensive drängen lassen.
Vanessa ist noch ein halbes Kind, sagte sie sich.
Benommen erkannte sie, dass Tom sich immer noch lautstark über den Verlust seiner Poster beschwerte. Marcus, der sich inzwischen aus Vanessas tränenreicher Umarmung gelöst hatte, betrachtete sie verärgert.
„Das ist gemein!“, heulte Tom. „Sie kann tun und lassen, was sie will … Ich wünschte, ich musste nicht bei dir wohnen. Immer hältst du zu ihr.“
Eleanor sah die Tränen in seinen Augen. Sie bemerkte seinen anklagenden Blick und hörte den verletzten männlichen Stolz in seiner Stimme. Hilflos sah sie von seinem geröteten Gesicht zu Vanessas triumphierender Miene.
Ein Kind? Nein, Vanessas Verhalten hatte nichts mit der spontanen Reaktion eines missverstandenen Kindes zu tun. Das Mädchen hatte mit voller Absicht so gehandelt. Es hatte genau gewusst, was es tat, und das Ergebnis im Voraus berechnet.
Verzweiflung erfasste Eleanor. Sie konnte ihrem Sohn nicht erklären, weshalb Vanessa ihm scheinbar vorgezogen wurde. Ebenso wenig konnte sie Marcus klarmachen, weshalb seine Tochter sie so verwundbar machte und reizte, dass sie fürchtete, etwas Falsches zu tun oder zu sagen und ihre Beziehung mit ihm zu gefährden.
Plötzlich stutzte Eleanor. Wie kam sie denn auf diesen Gedanken? Gewiss hatte Vanessa nicht solch einen Einfluss auf ihren Vater. Trotzdem musste die Angst von irgendwo kommen …
Wahrscheinlich stammte sie aus ihrer Kindheit, aus dem Bewusstsein, nicht wichtig genug zu sein und nicht um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Aus dem Gefühl, sich diese Liebe erst mit harter Arbeit verdienen zu müssen.
Sie hatte geglaubt, die alten Fesseln längst abgestreift zu haben. Weshalb kamen die Zweifel und Ängste jetzt wieder zum Vorschein?
Hilflos suchte Eleanor in Marcus’ Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er begriff, was in ihr vorging. Doch sie bemerkte nur Verärgerung in seinem Blick über die Szene in seinem Haus – und über sie.
14. KAPITEL
A uf dem Weg nach unten hörte Fern den Postboten kommen. Sie holte die Briefe aus dem Kasten und nahm sie mit in die Küche. Die meisten waren für Nick. Von den drei an sie gerichteten Schreiben enthielten zwei Bitten um eine Spende.
Der dritte Brief bestand aus einem dicken bauchigen Umschlag. Fern erkannte die Handschrift ihrer ältesten Freundin und lächelte erwartungsvoll. Automatisch legte sie Nicks Post beiseite, goss sich eine Tasse Kaffee ein und öffnete Cressys Brief.
Cressy und sie kannten sich seit der Schulzeit. Die Freundschaft hatte nicht nur ihr gegensätzliches Temperament überstanden, auch ihre unterschiedliche Erziehung, die Universität und die getrennten Lebenswege, die sie seitdem eingeschlagen hatten.
Seit Fern mit Nick verheiratet war, beschränkte sich diese Freundschaft allerdings hauptsächlich auf Briefe und Telefonanrufe.
Cressy, eine glühende Anhängerin des Umweltschutzes, hatte einen Beruf gewählt, der sie in die fernsten Teile der Welt führte. Der heutige Brief war jedoch in Lincolnshire abgestempelt
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