Brown, Dale - Patrick McLanahan - 09 - Mann gegen Mann
zur Lage der Nation erwähnen?«
»Ich habe nicht vor, eine Regierungserklärung abzugeben«, sagte Thorn.
»Was?«, riefen die anderen fast im Chor.
»Mr. President, das kann unmöglich Ihr Ernst sein«, sagte Kercheval beinahe erregt. »Die Amtseinführung zu schwänzen, war schlimm genug …«
»Ich habe sie nicht ›geschwänzt‹, Ed. Ich habe es nur vorgezogen, nicht daran teilzunehmen.«
»Das war politischer Selbstmord, Mr. President«, sagte Kercheval nachdrücklich. »Es hat Sie zum Gespött der ganzen Welt gemacht.«
»Mein gesamtes Kabinett ist innerhalb von zwei Wochen bestätigt worden, und bis Ende dieses Monats werde ich alle freien Bundesrichterstellen besetzen«, sagte der Präsident. »Mir ist egal, ob die Welt mich für verrückt hält, und politischer Selbstmord ist für mich kein Thema, weil hinter mir praktisch keine Parteiorganisation steht.«
»Aber im Kongress keine Regierungserklärung abzugeben, ist …«
»Nirgends ist eine Rede zur Amtseinführung vor dem Kapitol oder eine Regierungserklärung im Kongress zwingend vorgeschrieben«, stellte der Präsident fest. »Die Verfassung verlangt eine Vereidigung und einen Amtseid, den ich geleistet habe. Die Verfassung schreibt nur einen jährlichen Bericht an den Kongress vor, in dem ich die Lage der Nation und meine Gesetzesvorhaben erläutere. Diesen Bericht werde ich gleichzeitig mit der Vorlage meines Haushaltsplans liefern.
Sie behaupten, das sei politischer Selbstmord – ich sage, es beweist dem Kongress und dem amerikanischen Volk, dass ich meine Arbeit ernst nehme. Der Kongress weiß, wie ernst es mir mit der Bildung und Leitung meiner Regierung ist, und hat deshalb mein Kabinett in Rekordzeit bestätigt. Meine Richter werden Monate, in manchen Fällen sogar Jahre früher vereidigt als die von früheren Präsidenten ernannten.«
Kercheval wirkte trotzdem noch besorgt. Thorn erhob sich, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte ernst: »Das erscheint Ihnen nur selbstmörderisch, Ed, weil Sie aus der Washingtoner Politik kommen, die sich meist wenig um die Gesetze oder die Verfassung schert.«
»Sir?« , fragte Kercheval hörbar aufgebracht. »Wollen Sie etwa andeuten, dass …«
»Ich habe keine große Ahnung von Washingtoner Politik«, fuhr der Präsident fort, ohne auf Kerchevals wachsenden Zorn zu achten. »Ich kenne nur die Verfassung und die wichtigsten Gesetze. Und wissen Sie was? Das ist alles, was ich wissen muss. Deswegen weiß ich, dass ich nicht verpflichtet bin, eine Rede zur Amtseinführung zu halten oder eine Regierungserklärung zur Lage der Nation abzugeben; und ich vertraue darauf, richtig gehandelt zu haben. Diese Art Vertrauen färbt auf andere ab. Ich hoffe, dass es auf Sie abfärben wird.« Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und begann auf der Computertastatur zu tippen. »Heute Vormittag treffen wir mit den Fraktionsspitzen von Repräsentantenhaus und Senat zusammen«, sagte er laut, ohne zu Kercheval hinüberzusehen. »Die erste Videokonferenz ist für nachmittags angesetzt, stimmt’s, Ed?«
»Ja, Sir. Mit den Regierungschefs der NATO-Staaten«, antwortete Kercheval, der über die Ausführungen des Präsidenten völlig verblüfft war. »Eine Videokonferenz aus dem Cabinet Room um fünfzehn Uhr. Die Telekonferenz heute um zwanzig Uhr findet mit unseren Verbündeten in Asien statt. Für morgen um zehn Uhr ist dann eine weitere Videokonferenz mit den Regierungschefs der blockfreien Staaten Europas sowie Mittel- und Südamerikas angesetzt.«
»Irgendwelche Trendmeldungen?«
»Allgemein wird angenommen, dass Sie den Abzug amerikanischer Friedenstruppen aus Bosnien, Makedonien und dem Kosovo ankündigen werden«, antwortete Kercheval. »Dieses Gerücht macht seit letzter Woche die Runde. Frankreich und Großbritannien haben angekündigt, dass sie ihre Kontingente abziehen werden, wenn wir das auch tun. Russland hat bereits angekündigt, seine Truppen aus dem Kosovo abzuziehen, dürfte seine Entscheidung jedoch überdenken, sobald unsere Absicht offiziell bestätigt wird. Deutschland wird voraussichtlich in Bosnien und dem Kosovo bleiben.«
»Wieso das?«
»Der Balkan liegt vor seiner Haustür, und Deutschland hat seit Jahrhunderten großes Interesse an diesem Gebiet«, sagte Kercheval. »Leider sind die historischen Beziehungen vielfach negativ belastet – vor allem die aus jüngerer Zeit. Das Dritte Reich hat bei seinem Vernichtungsfeldzug gegen ›minderwertige‹ Rassen wie Juden und
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