Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
auf seinen Konzerten nicht mehr blicken zu lassen. »Deine Mutter hat deinen Vater doch auch nicht auf die Arbeit begleitet. Warum musst du mir unbedingt beim Arbeiten zusehen?« Bracken zuckte mit den Achseln und entgegnete: »Mein Vater war kein Rockmusiker.« Aber sie wusste genau, was Bruce an ihrer Anwesenheit störte. »Ich stand ihm dabei im Weg, mit anderen Frauen zu flirten.«
Von nun an machte Bruce sich rar. Mal schlief er bei einem Freund auf dem Sofa, mal bei einem anderen in einem leerstehenden Gästezimmer oder in der Wohnung einer neuen Freundin. Selten blieb er länger als einen Monat an einem Ort, weshalb seine Freunde und Kollegen oft Mühe hatten, ihn ausfindig zu machen. Bracken, die ganz genau wusste, wann er ihr mal wieder aus dem Weg ging, war ihm dennoch kaum lange böse. Nicht nur, weil er so talentiert war und so gut aussah, sondern auch, weil sie spürte, welch tiefsitzenden Schmerz er verbergen wollte. Selten erwähnte er ihr gegenüber seine Familie, und obschon er seinen kleinen Neffen (Ginnys Sohn) von Herzen liebte, traf Bracken in den gut zwei Jahren, die sie mit Bruce zusammen war, Ginny nur ein einziges Mal.
Einmal nahm Bruce Bracken mit zu einem Familientreffen im Haus seines Großvaters Anthony Zerilli. Es war ebenjenes Haus, in dem Bruce’ Mutter Adele und ihre Schwestern Dora und Eda ihre Jugendjahre verbracht hatten. Zerilli hatte das alte Bauernhaus in Englishtown, New Jersey, übernommen, nachdem er in den 40ern aus dem Gefängnis entlassen worden war. Seitdem lebte er dort. Da ihm die Anwaltslizenz entzogen worden war, hatte er sich als Steuerberater niedergelassen, wobei er nebenher noch genug andere Geschäfte 1 machte, die ihm neben einem stattlichen Einkommen auch Verbindungen mit ausländischen Handelsdelegationen und dergleichen einbrachten. Seine Familie betrachtete ihn als Tycoon, und er fügte sich nur allzu gern in diese Rolle, insbesondere als Gastgeber eines Familientreffens. Als Bruce die zahlreich angereisten Verwandten erblickte, die den Rasen vor dem Haus bevölkerten, verdrehte er die Augen und erzählte Pam, wie ein entfernter Cousin dem Familienoberhaupt eines Tages einen Besuch abgestattet und zum Abschied von ihm einen seiner Wagen geschenkt bekommen hatte. »Die spekulieren alle darauf, auch ein Stück vom Kuchen abzubekommen«, grummelte er.
Aus dem Inneren des Hauses ist Bracken vor allem ein großes Esszimmer in Erinnerung geblieben, das von einem auf Hochglanz polierten Esstisch dominiert wurde, der gut und gerne Platz für zwölf Personen bot. Von dort aus führte Bruce sie in ein kleines Wohnzimmer, in dem eine alte Dame, die atemberaubend schnell Italienisch sprach, in einem knarzenden Schaukelstuhl kauerte. Bruce stellte sie Pam als seine Großmutter Adelina, Anthonys erste Frau, vor. 2 Als sie ihren Enkel erblickte, winkte sie ihn zu sich und nahm sein Gesicht in ihre Hände. »Sie kniff Bruce wiederholt in die Wangen und sagte ständig: ›Süß-ah! Süß-ah!‹«, erinnert sich Bracken.
Nachdem Anthony seinen Enkel begrüßt hatte, führte er ihn und seine Freundin in einen Schuppen, wo er die Schätze aufbewahrte, die er im Laufe seines Arbeitslebens gesammelt hatte. Er öffnete eine Schublade, kramte ein wenig darin herum und präsentierte Bruce dann einen schäbigen Andenkenlöffel, den er von irgendeinem europäischen Würdenträger bekommen hatte. »Ich fand das total beknackt«, sagt Bracken. Bruce lächelte, bedankte sich bei seinem Großvater und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Im Winter 1971 scharte Bruce in Asbury Park einen Kreis von Musikern um sich, die er bei den Jamsessions im Upstage kennengelernt hatte. Die meisten Bandkollegen von Steel Mill, insbesondere Van Zandt, blieben in Kontakt mit ihm. Zu Bruce’ engerem Kreis gehörten inzwischen aber auch Big Bad Bobby Williams, der Folkrocker Albee Tellone, der Bluessänger, Bassist und Mundharmonikaspieler John Lyon, der irische Blueser Big Danny Gallagher, der Upstage-Türsteher Black Tiny (der seinem Kollegen Jim Fainer zufolge eine Statur hatte »wie ein Pepsi-Automat mit Armen und Beinen«), die Geschwister John und Eddie Luraschi, das wandelnde Rock’n’Roll-Lexikon Garry Tallent und David Sancious, der eine klassische Musikausbildung genossen hatte. Sie alle hatten sich schon in irgendeiner Weise einen Namen gemacht. Als Musiker in einem Badeort, wo es während der kalten Jahreszeit nicht viel zu tun gab, hatte allerdings kaum einer von ihnen auch zwanzig
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