Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
Bruce Springsteen und der Mann, der ihn entdeckt hatte, ganz große Nummern waren.
Appel fiel aus allen Wolken, als Bruce eines Abends um zehn im Hotel anrief und ihm erklärte, dass das abstruse, siebenminütige »Visitation at Fort Horn« von der B-Seite verschwinden müsse. Der Song sei zu lang. Er dominiere das Ende des Albums und lenke von »Spirit in the Night« und »It’s Hard to Be a Saint in the City« ab. Weg damit, forderte Bruce.
Appel fragte, ob Bruce vergessen habe, dass Columbia das Album bereits abgenommen und gemastert habe und dass schon mehrere Dutzend Testpressungen in Umlauf seien? Jetzt noch etwas zu ändern bedeute, dass man die Plattenfirma dazu nötige, die ganze Arbeit noch einmal zu machen: das komplette Album noch einmal zu remastern, neue Testpressungen zu produzieren und, und, und. »Mike drehte völlig durch«, sagt Spitz. »Wir waren davon überzeugt, dass Columbia das nicht mitmachen würde.« Appel erwartete einen gehörigen Wutausbruch, als er am nächsten Tag bei Hammond anrief, um ihm Bruce’ Entscheidung mitzuteilen. Doch der A&R-Mann blieb ganz ruhig und nahm sich der Sache sofort an. »Was immer Bruce will, er wird es bekommen«, sagte er. Und das sollte nicht nur in diesem Fall so sein.
Eines Tages kam Bruce mit einer ziemlich altbackenen Postkarte mit der Aufschrift »Greetings from Asbury Park, N. J.« (bei der die Buchstaben mit Fotografien vom Strand und von der Uferpromenade von Asbury Park hinterlegt waren) an und erklärte Appel, dies sei die perfekte Gestaltung für das Albumcover – und obendrein der ideale Titel für die Platte. Was ihn betraf, erübrigte sich jede weitere Diskussion über das Thema. Allerdings gab es bei Columbia eine unumstößliche Regel, die besagte, dass auf jedem Debütalbum eines Vertragskünstlers ein großes Foto des Musikers oder der Band zu sehen sein musste, der/die die Platte aufgenommen hatte, damit sich sein bzw. ihr Bild in das Gedächtnis der Käufer einprägte. Nachdem Bruce gegangen war, sagte Appel zu Spitz: »Oh Mann, das wird ein Desaster. So wird kein Mensch eine Vorstellung davon bekommen können, wer er ist!«
Wenig später hatten Appel, Spitz und Bruce einen Termin bei Columbias Artdirektor John Berg. Überzeugt davon, dass der wortkarge, geradlinige Grafiker die Idee mit der Postkarte sofort verwerfen würde, ließ Appel Bruce sein Konzept vorstellen. Berg studierte die »Greetings«-Karte eingehend und nickte dabei gedankenverloren. Dann griff er in eine Schublade und zog einen riesigen Stapel ähnlicher alter Postkarten hervor. »Ich muss gestehen, ich habe eine große Schwäche für Postkarten«, sagte er, während er den Stapel Bruce reichte, der sofort interessiert darin zu blättern begann. Berg wandte sich indes wieder der Asbury-Park-Karte zu. »Genauso machen wir das«, sagte er. »Das ist brillant. Einfach perfekt.« Appel blieb die Spucke weg. »Wir dachten, mit dieser Geschichte würden wir den Bogen endgültig überspannen«, erzählt Bob Spitz. »Doch mit dieser Einschätzung lagen wir völlig daneben.«
Das rege Interesse von Davis und Hammond an dem Neuling sorgte dafür, dass Bruce und seinem Team bei Columbia die denkbar größten Freiheiten eingeräumt wurden, die einem unbekannten Act, der sich noch nicht bewährt hatte, überhaupt zugestanden werden konnten – zumindest für den Moment, denn Machtstrukturen und Loyalitäten sind in der Musikindustrie keine dauerhaften, verlässlichen Faktoren. Entscheidend würden die ersten Verkaufszahlen nach der Veröffentlichung des Albums im Januar 73 sein. Was niemand wusste war, dass Bruce dank der in der Plattenfirma kursierenden Azetatkopien bereits viele Anhänger unter dem Vertriebspersonal, den PR-Leuten und A&R-Managern hatte. Al Teller, der damals im Vertrieb arbeitete, hörte gewohnheitsmäßig in alle Azetatscheiben rein, die auf seinem Schreibtisch landeten. Meist liefen sie nur im Hintergrund, aber wenn ihn einmal eine dieser Vorabpressungen aufhorchen ließ, unterzog er sie auch einer genaueren Prüfung. Teller hatte noch nie etwas von Bruce Springsteen gehört, als er die Nadel auf den Anfang der A-Seiten-Rille von Greetings setzte, doch nach spätestens acht Takten legte er seinen Stift beiseite. »Ich hörte die Platte in einem Rutsch durch«, sagt er. »Dann rief ich ein paar Produktmanager zu mir rein und sagte: ›Das müsst ihr euch anhören!‹«
Azetatplatten waren außerordentlich empfindlich, sodass man sie höchstens fünfzehn-
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