Bruchlandung
Als die Bahn die Haltestelle Am Stern erreicht hatte, stand er auf und drängte sich mit den anderen Pendlern und vielen Studenten, die auf dem Weg zur nahen Universität waren, aus dem Wagen. Eigentlich hätte er erst an der nächsten Station aussteigen müssen, aber er wollte noch ein wenig frische Luft atmen und sich bewegen. Mit fahrigen Händen spannte er seinen Schirm auf, um sich vor dem unangenehmen Schneeregen zu schützen, und machte sich auf den Weg zur Kanzlei. Zwischendurch blieb er immer wieder stehen und betrachtete das Warenangebot in den Schaufenstern auf der Unteren Königstraße, wobei ihm sehr wohl bewusst war, dass er das ausschließlich tat, um bloß keine Sekunde zu früh anzukommen.
Morgen früh 09:00 Uhr im Besprechungsraum , hatte auf dem Zettel gestanden, den Frau Reichenbach vom Empfang ihm am Abend zuvor in sein Büro gebracht hatte. Kurz und knapp, wie seine Kollegen es immer hielten. Keine Anrede, kein lieber Thomas , nur die unverblümte Aufforderung, zu erscheinen.
Er passierte den Seiteneingang des City-Points, der großen innerstädtischen Einkaufshalle, ging ein paar Schritte zurück, schüttelte den Schirm aus, zog ihn zusammen und betrat den Konsumtempel. Dort nahm er nicht die Rolltreppe, sondern schlenderte langsam die Stufen hinauf, umrundete die Etage und verließ das Gebäude wieder am Ausgang Königsplatz. Dort wandte er sich nach rechts und ging, die letzten Meter nach dem Arkadengang im Freien ohne Schirm, auf die schwere klobig wirkende Holztür zu, die er in den 18 Jahren seiner Tätigkeit hier sicher schon Tausende Male aufgezogen und geschoben hatte. Als er den Fahrstuhl verließ, musste er so intensiv schlucken, dass er für einen Moment befürchtete, sich übergeben zu müssen, doch er bekam die Situation, wenn auch mit großer Mühe, in den Griff.
»Ihre Kollegen warten schon im Besprechungsraum«, wurde er von Frau Reichenbach begrüßt, die natürlich, wie alle anderen Mitarbeiter der Kanzlei auch, haargenau wussten, warum sich die Chefetage an diesem Morgen dort zusammenfand. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen?«
»Nein, vielen Dank, ich hatte schon zwei Espressi«, erwiderte Blatter leise.
Mit einem angedeuteten Nicken und einem kurzen Antippen der Theke mit der rechten Handfläche verließ er den Empfang und hatte Sekunden später den Raum erreicht, in dem seine Kollegen auf ihn warteten. Vor der Tür hielt er kurz inne, atmete tief durch, versuchte, einen heiteren, optimistischen Gesichtsausdruck zu imitieren, und drückte die kalte Edelstahlklinke nach unten.
»Guten Morgen, Kollegen«, schmetterte er den beiden an dem großen Tisch sitzenden Männern zu, die mit Kaffeetassen vor sich dasaßen.
Robert Bosch und Cord Frommert hoben kurz die Köpfe, nickten ihm unverbindlich zu und bedeuteten ihm, er möge bitte zwischen ihnen am oberen Ende Platz nehmen.
»Du weißt, warum wir um dieses Treffen ersuchen mussten«, begann Frommert mit ernster Miene.
»Na ja, ersuchen würde ich das nicht nennen«, machte Blatter auf pikiert.
»Da magst du recht haben«, stimmte Bosch zu. »Aber die Klärung der Situation duldet nun einmal keinen Aufschub, Thomas.«
Blatter zog, wie er es auch vor Gericht gern machte, eine Augenbraue hoch und fixierte die beiden Männer.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich so genau weiß, von welcher Situation wir sprechen.«
»Wir sprechen«, schrie Frommert ihn völlig unvermittelt an, während er seine rechte Hand auf die Tischplatte krachen ließ, »davon, dass dein Verhalten sich zunehmend existenzbedrohend auf die Kanzlei auswirkt.«
Bosch legte seinem Kollegen sanft die Hand auf den Arm und tätschelte die Stelle. Wenn diese Geste beruhigend wirken sollte, so schien sie ihr Ziel deutlich zu verfehlen, denn Cord Frommert zog mit einer hastigen Bewegung die Hand zur Seite.
»Wir alle hier wissen, dass dein Beitrag zum Ertrag in den letzten Jahren deutlich hinter Roberts und meinem zurückgeblieben ist. Du erwirtschaftest nicht einmal mehr zehn Prozent des Umsatzes, wenn es überhaupt so viel sein sollte. Du verbringst ein Viertel des Jahres in deinem Haus in Thailand, wobei wir alle hier froh sind, dass nicht publik wird, was genau du dort eigentlich treibst. Und, als ob das noch nicht genug wäre, bringst du die Kanzlei mit Aktionen in Verruf, die wir schon seit Jahren missbilligen. Wir wollen nicht mit Rockergruppen in Verbindung gebracht werden, dazu ist unsere andere Klientel eindeutig zu konservativ.«
Er
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