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Bruchlandung

Bruchlandung

Titel: Bruchlandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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eintrat, wie schon sein Vater ein paar Jahrzehnte zuvor, die ersten Kontakte zur damals noch weitestgehend im Verborgenen blühenden Schwulenszene herstellte. Obwohl er sich in den einschlägigen Etablissements herumtrieb, wurde er nie auffällig, sodass seine Neigung lange Jahre für andere nicht wahrzunehmen war. Mit Ende des Studiums und des anschließenden Referendariats kam er zurück nach Kassel, wo er lange unter den mangelnden Möglichkeiten für Homosexuelle zu leiden hatte, denn die betreffende Szene war deutlich kleiner als die in der südlich gelegenen Großstadt. Nachdem sein Vater verfügt hatte, dass er sich zunächst für ein paar Jahre die ersten Meriten in einer anderen Kanzlei verdienen sollte, kam es im Sommer 1987 zu einem folgenschweren Zusammentreffen der beiden Männer. Hieronymus Blatter und seine Frau mussten nach einem sich entzündenden Kontakt mit einer Feuerqualle den Jugoslawienurlaub abbrechen und standen unverhofft eine ganze Woche zu früh für den ältesten Spross im heimischen Haus. Thomas Blatter, der die Absenz der Eltern für ausschweifende Partys und andere wilde Festivitäten genutzt hatte, lag nackt in den Armen zweier Jugendlicher, als sein Vater das Wohnzimmer betrat. Der sich anschließende Meinungsaustausch hatte den Charakter eines Tribunals, bei dem das Urteil bereits vor Beginn feststand. Keine zwei Stunden nach der Rückkehr der Eltern hatte der ältere der beiden Blatter-Söhne zum letzten Mal das Haus von innen gesehen, danach gab es nie wieder einen Kontakt zu Vater oder Mutter. Dass der völlig überraschende Suizid des honorigen Juristen Hieronymus Blatter am 24.12.1987 auch nur im Geringsten mit den Ereignissen dieses Sommermorgens zu tun haben könnte, stritt Thomas Blatter im inneren Dialog mit sich selbst in den folgenden Jahren vehement ab. Wie auch immer, er blieb schließlich in der Kanzlei, in der sein Vater ihn untergebracht hatte, und wurde einige Jahre später Sozius.
    Nun, an diesem feuchtkalten Wintertag des Jahres 2014 schien sich für den zur Manieriertheit neigenden Juristen alles zum Guten zu wenden, denn zum ersten Mal seit vielen Jahren fuhr er mit einem positiven Gefühl in die Kanzlei. Er fuhr mit dem befreienden Gefühl dorthin, dass es nicht mehr sehr viele Termine in diesem Gebäude für ihn geben würde. Nachdem er am Bahnhof Wilhelmshöhe in die Straßenbahn umgestiegen war, die sich kurz darauf in Bewegung setzte, begann er von seinem Haus in Thailand zu träumen. Er wusste, dass er das Anwesen in den letzten Jahren ein wenig vernachlässigt hatte, aber das würde sich schlagartig ändern, sobald er nicht immer wieder nach Deutschland zurückkehren musste. Er konnte bleiben, ohne ständig auf den Kalender achten zu müssen, er konnte zum ersten Mal, seit er das Haus gekauft hatte, wirklich ankommen.
    Rechts und links neben der Einfahrt kommen Palmen hin , dachte er beglückt. Und ich werde endlich die alte, klappernde Klimaanlage gegen eine neue austauschen.
    Die vor seinem geistigen Auge ablaufenden Bilder ließen die paar Wochen oder Monate, die er noch in dem kalten, unwirtlichen Deutschland verbringen musste, erträglich erscheinen. Als die Bahn die Haltestelle Friedrichsplatz erreicht hatte, stand er auf, drängte sich mit den in seinen Augen vielen armen Menschen, die vermutlich noch Jahre oder Jahrzehnte arbeiten mussten, bis ihnen eine kleine oder im schlimmsten Fall noch mickrigere Rente ausbezahlt wurde, aus dem Zug und ging, innerlich singend, auf der rechten Straßenseite in Richtung Königsplatz. Vor dem Bekleidungsladen blieb er kurz stehen und betrachtete eine Weile die Auslage.
    Ich werde mir jede Menge neue Klamotten kaufen , aber das mache ich alles dort .
    Nicht, dass es ihm ums Geld ging, aber ein perfekt sitzender Maßanzug war schon etwas anderes als die im Preis vergleichbare Europäische Stangenware.
    Etwa auf Hälfte der Strecke zwischen Friedrichsplatz und Königsplatz wollte er die Straßenbahnschienen überqueren und drehte sich deshalb kurz um. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass sich etwa 50 Meter hinter ihm einer der für die Stadt so charakteristischen blauen Züge näherte.
    Das schaffe ich spielend , dachte der Jurist, wandte den Körper nach links und setzte den rechten Fuß nach vorn. Genau in dem Moment, in dem die Ledersohle seiner teuren rahmengenähten Schuhe auf das kalte Metall der Schiene traf, rutschte er leicht weg. Die Aktentasche glitt ihm aus der Hand und fiel direkt vor ihm

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