Bruder Cadfael und ein Leichnam zuviel
geknickt ist? Ich habe es in dem Einschnitt gefunden, den die Schnur in der Kehle des armen Kerls hinterlassen hat. Und die Schnur hat auch den Knick im Halm verursacht. Er stammt aus dem Heu, das letztes Jahr geschnitten worden ist. Das Labkraut wächst heuer reichlich, man findet es überall, ein gutes Kraut, das beste Mittel für Wunden, die schlecht heilen.
Alle Dinge in der Natur haben ihren Nutzen, nur Mißbrauch macht sie schlecht.« Er steckte den trockenen Halm wieder in den Lederbeutel und legte einen Arm um ihre Schultern.
»Komm, laß uns gehen und einen Blick auf diesen jungen Mann werfen.«
Man hatte den geheimnisvollen Unbekannten am Chorende des Kirchenschiffes aufgebahrt. Er war von einem Leichentuch bedeckt, aber sein Kopf war frei. In der Kirche herrschte dämmriges Licht; man brauchte einige Minuten, bis sich die Augen daran gewöhnt hatten, aber dann war er gut zu erkennen. Godith stand neben der Bahre und sah ihn schweigend an. Als Cadfael leise fragte: »Kennst du ihn?« war er sich ihrer Antwort fast schon sicher.
»Ja«, flüsterte sie.
»Komm!« Sanft führte er sie wieder aus der Kirche hinaus.
Draußen holte sie tief Luft, sagte aber nichts, bis sie wieder sicher im Herbarium waren. Sie setzten sich, umgeben von den Gerüchen des Sommers, eingehüllt in den Schatten des Schuppens.
»Nun, wer ist dieser junge Mann, der dir und mir solche Sorgen macht?«
»Er heißt Nicholas Faintree«, sagte sie sehr leise und verwundert. »Seit ich zwölf Jahre alt war, bin ich ihm immer wieder einmal begegnet. Er ist einer von FitzAlans Edelleuten von einer seiner nördlichen Besitzungen und hat ihm in den letzten Jahren einige Male als Kurierreiter gedient. Nein, ich glaube nicht, daß man ihn in Shrewsbury kennt. Wenn man ihm hier aufgelauert und ihn ermordet hat, muß er wohl im Auftrag seines Herrn unterwegs gewesen sein.« Sie stützte ihren Kopf in die Hände und dachte nach. »Es gibt in Shrewsbury einige Leute, die ihn hätten identifizieren können, wenn sie Grund gehabt hätten, unter den Toten nach Familienmitgliedern zu suchen. Ich kenne einige, die Euch erzählen könnten, warum Nicholas an jenem Tag und in jener Nacht hier war. Seid Ihr sicher, daß ihnen nichts geschehen wird?«
»Nicht durch mich«, sagte Cadfael, »das kann ich versprechen.«
»Da ist mein Kindermädchen, die Frau, die mich hergebracht und als ihren Neffen ausgegeben hat. Petronilla hat spät geheiratet, zu spät, um selber Kinder bekommen zu können, und bis dahin stand sie in den Diensten meiner Familie. Sie hat einen Mann geheiratet, der Fitz Alans und meinem Hause nahestand: Edric Flesher, den Meister der Fleischerzunft in Shrewsbury. Als FitzAlan sich für Kaiserin Maud entschied, waren die beiden in alle Pläne eingeweiht. Wenn Ihr ihnen sagt, ich habe Euch geschickt, werden sie Euch alles erzählen, was sie wissen.«
Cadfael rieb sich nachdenklich seine Nase. »Ich werde mir den Esel des Abtes leihen. Wahrscheinlich ist es besser, den König nicht länger warten zu lassen, aber auf dem Rückweg kann ich bei Edrics Laden halten. Gib mir ein Erkennungszeichen, damit sie mir Glauben schenken.«
»Petronilla kann lesen, und sie kennt meine Schrift. Ich werde ihr ein paar Zeilen schreiben«, sagte Godith eifrig. Sie war ebenso entschlossen wie er, dieses Geheimnis aufzuklären.
»Nicholas war ein so fröhlicher Mensch, er hat niemals jemandem etwas zuleide getan, und ich kann mich nicht erinnern, daß er einmal schlechte Laune gehabt hätte. Er hat immer viel gelacht... Aber wenn Ihr dem König sagt, daß er zur Gegenpartei gehört hat, wird er den Mörder wohl nicht verfolgen wollen. Er wird sagen, daß Nicholas ein gerechtes Schicksal ereilt hat, und Euch befehlen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
»Ich werde dem König sagen«, erwiderte Cadfael, »daß ganz offensichtlich ein Mann ermordet wurde, und daß wir die Art und die Zeit des Verbrechens kennen, nicht aber den Ort und den Grund. Außerdem werde ich ihm den Namen des Toten nennen – ich glaube nicht, daß Stephen ihn kennt. Im Augenblick ist das alles, mehr wissen wir nicht. Und auch, wenn der König mir befiehlt, die Sache auf sich beruhen zu lassen, werde ich das nicht tun. Nein, ich werde nicht eher ruhen, bis Nicholas Faintrees Tod gesühnt ist – mit meiner Hilfe oder mit Gottes Hilfe.«
Bruder Cadfael nahm die Kleidungsstücke mit, die Aline ihm überlassen hatte. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die ihm übertragenen
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