Bruder Cadfaels Buße
Doch ist es sinnlos, heute über eine Sünde zu rechten, die wohl an die dreißig Jahre zurückliegt. Seit du dein Gelübde abgelegt hast, habe ich nur selten tadelnswerte Schwächen an dir entdeckt, abgesehen von den kleinen täglichen Fehlern wie Ungeduld oder mangelnden Eifer, zu denen wir alle neigen. Daher wollen wir uns mit dem beschäftigen, was uns augenblicklich drückt. Ich vermute, daß du mit Bezug auf Olivier de Bretagne etwas vortragen oder um etwas bitten möchtest.«
»Tadelt mich, Vater«, sagte Cadfael, jedes seiner Worte wägend, »falls ich zu Unrecht meine, daß mir die Vaterschaft eine Pflicht auferlegt, wenn mein Kind in Not oder Unglück gerät. Ich sehe mich durch eine solche Verpflichtung gebunden und kann mich ihr nicht entziehen. Ich muß meinen Sohn suchen und ihm zur Freiheit verhelfen, sofern ich ihn finde. Ich bitte Euch, mein Unternehmen gutzuheißen und mir Urlaub dafür zu gewähren.«
»Ich sage dir, was ganz im Gegenteil deine Pflicht ist«, gab ihm Radulfus zu bedenken. Dabei runzelte er die Stirn, wohl weniger aus Mißbilligung denn vor tiefer Konzentration. »Deine Gelübde binden dich an diesen Ort. Aus eigenem Willen hast du dich dazu entschieden, der Welt und allem zu entsagen, was dich an sie bindet.
Das kannst du nicht abwerfen wie einen Umhang.«
»Meine Gelübde habe ich in gutem Glauben abgelegt«, gab Cadfael zurück. »Zu jener Zeit war mir nicht bekannt, daß diese Welt ein Lebewesen trägt, für dessen Existenz ich verantwortlich bin. Gewiß, meine Gelübde haben alle Bindungen gelöst und alle persönlichen Beziehungen aufgehoben - bis auf diese eine! Ob ich der Welt entsagt hätte, wenn mir bekannt gewesen wäre, daß sie meinen lebenden Samen hält, vermag ich nicht zu sagen, und auch Ihr könnt keine Antwort wagen. Der Sohn, den ich gezeugt habe, lebt und schmachtet in Gefangenschaft, ich hingegen bin frei. Es ist gut möglich, daß er in Gefahr schwebt, während ich in Sicherheit bin. Vater Abt, gibt der Schöpfer das unbedeutendste seiner Geschöpfe auf?
Kann sich ein Mann von seinem eigenen Fleisch und Blut abwenden, wenn es in Gefahr ist? Ist nicht auch der Akt der Zeugung gleichbedeutend mit einem heiligen und unverletzlichen Gelöbnis? Ob ich es wußte oder nicht, ich war Vater, bevor ich Mönch wurde.«
Diesmal wirkte das Schweigen nicht nur kälter und distanzierter als zuvor, es dauerte auch länger. Dann sagte der Abt in ruhigem Ton: »Nenne mir offen heraus deine Bitte.«
»Urlaub und Euren Segen«, sagte Cadfael, »damit ich Hugh Beringar zur Versammlung in Coventry begleiten kann, um dort vor König und Kaiserin zu fragen, wo mein Sohn gefangen gehalten wird und mit Gottes und ihrer beider Hilfe zu erreichen, daß man ihm die Freiheit gibt.«
»Und was ist, wenn dir dort keine Hilfe zuteil wird?« fragte Radulfus.
»Dann möchte ich die Sache auf jede mögliche Weise weiterverfolgen, bis ich ihn finde und seine Freilassung erreiche.«
Der Abt sah ihn beherrscht an. Er hörte in der Stimme dieses älteren Mönches einen stählernen Klang aus früherer Zeit mitschwingen, der stumpf und verborgen gewesen war, seit er ihn kannte. Cadfael betrachtete ihn offen aus einem wettergegerbten und sonnengebräunten Gesicht mit kräftigen Knochen, in dessen Haut fünfundsechzig Lebensjahre tiefe Furchen gegraben hatten. Der Blick seiner herbstbraunen Augen zeigte dem Abt, daß sein Gegenüber nichts zu verbergen hatte. Nach Jahren bereitwilliger Unterwerfung gemäß den Forderungen der Gemeinschaft stand er mit einem Mal aufrecht und von den anderen losgelöst da, erneut allein. Radulfus erkannte die Endgültigkeit seiner Entscheidung.
»Sofern ich es dir verböte«, sagte er, »würdest du dennoch gehen.«
»Vor Gottes Angesicht und in aller Ehrfurcht sage ich ja, Vater Abt.«
»Dann verbiete ich es nicht«, gab Radulfus zurück.
»Mir obliegt es, meine ganze Herde zusammenzuhalten.
Wenn eins meiner Schafe in die Irre geht, fehlt auch den anderen etwas. Ich gestatte dir, Hugh zu begleiten und an der Versammlung teilzunehmen, und ich bete, daß die Sache ein gutes Ende nehmen möge. Doch endet dein Urlaub, sobald die Versammlung aufgelöst wird, ganz gleich, ob du erfahren hast, was du zu wissen begehrst oder nicht. Kehre mit Hugh zurück, wie du mit ihm gehst. Du bist auf dich allein gestellt und hast weder meine Unterstützung, noch meine Genehmigung oder meinen Segen, falls du weiterziehst und länger säumst.«
»Und auch nicht Eure Gebete?«
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