Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
Zeit alles zu Besuch kam. Da wäre es gut, wenn Ihre Haushälterin beim Aufräumen Ihres Papierkrams nicht auf meinen Namen gestoßen ist.«
»Aha… okay.«
Sie machte eine Pause, und auf einmal kam es mir vor, als wäre ich in eine andere Leitung geraten. Ich hörte ihr Atmen: ein schweres, hastiges, leicht zitterndes um Luft Ringen. So was hatte ich bisher nur bei Leuten während eines Panikanfalls erlebt oder vor einer sehr unangenehmen, sehr wichtigen Begegnung. Der übliche de-Chavannes-Ton…
»Muss ich mir um Marieke Sorgen machen?«
»Nicht mehr, als Sie sich nach den Ereignissen vermutlich sowieso schon machen. Abakays Anwälte werden versuchen, Entlastungszeugen aufzutreiben, und wenn Marieke mit Abakay tatsächlich nur über Fotokunst und soziale Ungerechtigkeit geredet hat, wäre sie natürlich perfekt.«
»Wenn«, wiederholte Valerie de Chavannes, machte wieder eine Pause, und wieder hörte ich ihr Atmen. Aber es kam mir nicht so vor, als atme sie wegen unseres Telefonats so schwer. Schon einmal hatte ich gedacht, dass hinter Valerie de Chavannes’ verschiedenen Masken einfach nur ständige Angst herrschte. Die hochmütige Oberschichtenziege, die Zornige, die Verächtliche, das hilfsbedürftige Weibchen, die Sehnsüchtige, die Dahinschmelzende, das tätowierte Luder oder nun die 007-Mama, die in schwierigen Zeiten kühlen Kopf bewahrte und den Laden zusammenhielt – alles Tarnung und Versuche, weitgehend unverletzt zu bleiben. Und das hatte nichts mit Abakay zu tun, das war schon immer so gewesen oder jedenfalls seit langer Zeit, glaubte ich.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was genau Abakay verbrochen hat. War das Ihr Ernst mit ›Mord‹, oder wollten Sie mich nur erschrecken?«
»Beides. Ob er den Mord selbst begangen hat, ist nicht sicher, jedenfalls steckt er in der Geschichte mit drin. Aber das hat nichts mit Marieke zu tun. Abakay ist ein kleiner Straßenköter, der, wo und wann es geht, versucht, ein paar Euro abzugreifen. Natürlich spielen da auch Drogen eine Rolle, wahrscheinlich auch gestohlene Autos, Waffen, falsche Papiere, was weiß ich. Und da gerät man eben schon mal in die Nähe eines Kapitalverbrechens. Trotzdem hat er nebenher diese Fotos gemacht, und das hat ihn mit Marieke verbunden.«
»Sie wissen natürlich, dass ich Ihnen unbedingt glauben möchte.«
»Klar. Aber sagen Sie mir einen Grund, warum ich Sie anlügen sollte.«
Sie zögerte. »Weil Sie mir nicht wehtun wollen.« Sie bemühte sich, den kühlen Ton beizubehalten, aber es klappte nicht ganz. Oder sie tat so, als bemühe sie sich, den kühlen Ton beizubehalten, und ließ ihn absichtlich ins Gefühlige rutschen.
»Ich würde Ihnen tatsächlich nur ungern wehtun, aber ich würde Ihnen deshalb keine Märchen erzählen.«
»Und wie erklären Sie sich Mariekes Verhalten in den letzten Tagen?«
»Tja, ich tippe auf Liebeskummer. Ich habe nicht gesagt, dass die Fotos alles waren. Und Abakay kann auf eine Sechzehnjährige sicher Eindruck machen. Ich würde jedenfalls darauf achten, dass Marieke in nächster Zeit keine Gefängnisbesuche unternimmt.«
»Um Gottes willen.«
»Na, also seien Sie froh, dass sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer hockt. Vielleicht kaufen Sie ihr mal ’ne andere CD .«
Kurz blieb es still in der Leitung, offenbar hatte sich ihr Atmen beruhigt, oder sie hielt den Hörer zur Seite, dann seufzte sie überraschend amüsiert und fragte: »Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Dreiundfünfzig. Wieso?«
»Weil sich kein Mensch mehr CD s kauft, sondern alles auf MP 3 lädt.«
»Ich hab sogar noch Kassetten.«
»Bestimmt Simply Red oder so was.«
»Nein, Whitney Houston. Aber ich kann sie nicht mehr hören, mein Rekorder ist kaputt.«
»Whitney Houston…«, wiederholte sie und wollte irgendwas sagen, das mich auf den Arm nahm – es war nicht schwierig, etwas zu sagen, das Whitney-Houston-Hörer auf den Arm nahm –, doch dann schien ihr etwas einzufallen, und sie verstummte plötzlich.
Auch ich verstummte. Wahrscheinlich hatten wir beide nur mal so losgelegt, einfach froh, für einen Moment vom Thema Abakay wegzukommen. Doch in null Komma nix waren wir vor einer ziemlich offenen Tür gelandet. Sie zum Beispiel weiter: Whitney Houston – jetzt glaube ich Ihnen die dreiundfünfzig. Was mögen Sie sonst noch? Foreigner? Münchner Freiheit? Und ich: Sie haben Whitney Houston nie richtig gehört. Morgens um drei, ein paar Bier oder irgendwas anderes drin, offene Kneipenfenster, laue
Weitere Kostenlose Bücher