Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
Unterstützung zu bitten oder gar nach Hause zurückzukehren. Na ja, ich war damals sowohl beruflich wie privat viel im Bahnhofsviertel unterwegs…«
Sie unterbrach die Verbindung. Vielleicht empfand sie die Vermutung einfach nur als Beleidigung, oder ich hatte ins Schwarze getroffen. Man musste wohl eine gewisse norddeutsche Gleichmut und Flaches-ödes-Land-Härte besitzen, um wie Deborah angesichts ihrer durchstandenen Jahre in den Sex-Clubs und Strip-Bars des Bahnhofsviertels nicht frei von Stolz zu sein. Für eine Bankierstochter und Künstlergattin dürfte ein Lebensabschnitt in der bekanntesten und – jedenfalls damals – tiefsten Gosse Frankfurts wahrscheinlich kein Thema sein, über das sie sich gerne ausließ.
Dabei kam mir plötzlich ein unangenehmer Gedanke: Wie alt war eigentlich Abakay? Mitte dreißig, nahm ich an, das haute nicht hin. Aber zumindest symbolisch dürfte er Valerie de Chavannes Geister der Bahnhofsviertel-Vergangenheit, falls es sie denn gegeben hatte, heraufbeschworen haben. Und vielleicht war ihr das anfangs gar nicht unangenehm gewesen. Inzwischen über vierzig, verheiratet, Kind, Villa, Wellness-Wochenenden, Sushi-Abendessen, Woody-Allen-Filme – da erinnerte man sich doch ganz gerne mal an die eigene Jugend, und sei sie noch so schräg verlaufen. Aber dann wurde aus der Erinnerung Gegenwart, der Zuhälter kommt ins Haus, lernt die sechzehnjährige Tochter kennen…
Ich wollte schnell zurück in die Weinstube zu meiner unsentimentalen jüdischen Friesin. Deborah nahm das Leben als Lerntreppe. Hatte sie eine Stufe durch, erklomm sie die nächste, und niemals ging sie zurück. Wozu etwas zweimal lernen? Einen Zuhälter hätte sie auf den ersten Blick durch alle Fotografen- und Weltverbessererkostüme hindurch erkannt und mit dem Besen übern Deich gejagt. Valerie de Chavannes Hilfsbedürftigkeit machte mich nervös.
»Hey, da bist du ja. Kannst du mal bitte zwei Zwölferkartons Foulards Rouges aus dem Keller holen?«
Deborah kniete im kurzen Jeansrock hinter der Theke und ging die Kühlschrankvorräte durch. Es war kurz vor fünf, bald würde sich die Weinstube füllen.
Ich betrachtete ihre nackten Beine. »Leeren wir eine Flasche davon?«
Sie sah auf, musterte mich kurz, ob ich vielleicht betrunken war, dann lächelte sie gekonnt sündig, ohne einen Zweifel zu lassen an: Ey, Alter, ich bin hier am Arbeiten. Und aus Spaß: »Bei dir oder bei mir?«
»Bei dir, mein Herz. Du weißt doch, meine Frau…«
»Ja, die nervt natürlich. Wenn die dann mitten in der Nacht kommt und noch erzählen will, wie der Tag in der Kneipe war, und dann aber eigentlich sofort aufm Sofa oder Sessel einpennt, und dann muss man sie ausziehen und ins Bett schaffen. Aber weißt du, mein Typ ist auch ’ne Qual. Seit er nicht mehr raucht, geht er immer früher ins Bett. Und wenn unsereins noch schön kuscheln oder wenigstens die Tagesthemen gucken will, schnarcht er einem schon die Ohren wund.«
Ich schüttelte den Kopf. »So ein Mist. Na, kann man nichts machen. Aber…«, ich deutete mit dem Kinn auf ihre Beine, »geiler Rock.«
»Danke. Holst du mich nachher ab?«
»Ich stell mir ’n Wecker.«
»Und ich trink ’n doppelten Espresso vorm Gehen.«
Sie zwinkerte mir zu und wandte sich wieder zum Kühlschrank. Auf dem Weg über den Hinterhof und eine feuchte Backsteintreppe hinunter in den Keller dachte ich über die Geister der Vergangenheit nach, die Valerie de Chavannes bei mir heraufbeschwor. Und wie verführerisch diese Geister sein konnten. Ich war nicht Deborah, ich wusste, ich konnte die Treppe jederzeit wieder runtergehen, ganz runter bis zum Fuß, und dann mit dreiundfünfzig alles noch mal von vorne: die Schnäpse, die Kippen, die durchwachten Nächte, die Wut und das Leuchten am Horizont.
Ich nahm mir vor, mein Versprechen nicht zu halten. Ich wollte mich für Valerie de Chavannes nächste Woche um nichts und niemanden kümmern, selbst wenn Scheich Hakims gesamte Glaubensbrüderschaft die Zeppelinallee auf Knien hinaufrutschen sollte. Und die Gefahr, dass man mich des – im wahrsten Sinne des Wortes – danebengegangenen Auftragsmords verdächtigte? Nun, ich glaubte inzwischen zu wissen, wer Rönnthaler umgebracht hatte. Noch fehlten mir die Beweise, aber die würde ich schon noch finden. Und dann konnte Valerie de Chavannes der Polizei erzählen, was sie wollte.
Statt um sie wollte ich mich um Deborah und unsere Weihnachtsferien kümmern. Über die Feiertage war die Weinstube für
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