Bruderherz
für Kleidung trägt sie?«
»Meistens Kleider. Eigentlich unverändert.«
»Trägt sie je das blaue Kleid mit den Sonnenblumen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wenn ich von ihr träume, trägt sie immer dieses Kleid. Ich bin einmal hin, um sie zu sehen«, erzählte er. »Bin die Race Street auf und ab gefahren und habe das Haus beobachtet in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf sie im Garten oder durch die Fenster zu erwischen. Vergeblich.«
»Warum bist du nicht zu ihr reingegangen?«
»Was hätte ich zu ihr sagen sollen?« Er machte eine Pause und schluckte. »Hat sie je nach mir gefragt?«
Ich dachte daran, zu lügen, sah jedoch keinen Grund, ihn zu schonen. »Nein.«
»Sprichst du je mit ihr über mich?«
»Wenn, dann nur über unsere Kindheit. Aber ich glaube nicht, dass sie diese Geschichten noch gerne hört.« Am Ende des Highways wurden nach Norden gerichtete Lichter sichtbar, allerdings waren sie noch so weit entfernt, dass ich nicht mal die einzelnen Scheinwerfer unterscheiden konnte.
»Dieses Auto wird erst in zehn Minuten hier vorbeikommen«, sagte er. »Es ist immer noch Meilen entfernt. Diese Straßen sind so lang und so gerade, dass die Entfernung täuscht.«
Meine rechte Hand pochte in der Umklammerung der metallenen Handschelle. Das Blut gelangte nicht mehr bis in die Fingerspitzen, doch ich beschwerte mich nicht. Stattdessen massierte ich meine Finger, bis das Kribbeln aufhörte.
»Was hast du mit mir vor?«, fragte ich, doch Orson starrte weiter auf die sich nähernden Scheinwerfer, als hätte er meine Frage nicht gehört. »Orson«, versuchte ich es erneut. »Was hast du…«
»Ich habe es dir am ersten Tag gesagt. Ich lasse dir eine Erziehung angedeihen.«
»Glaubst du, dass Erziehung darin besteht, den ganzen Tag langweilige Scheißbücher zu lesen?«
Er schaute mir direkt in die Augen. »Die Bücher haben nichts damit zu tun. Sicherlich hast du das längst kapiert.«
Er ließ den Motor an und wir rollten auf den Highway zu. Der Himmel war mittlerweile nachtschwarz. Wir fuhren über den Asphalt und blieben am Straßenrand stehen. Ich beobachtete die Scheinwerfer durch die Windschutzscheibe und zum ersten Mal kamen sie mir näher vor. Verwirrt schaute ich Orson an.
»Bleib still sitzen«, sagte er. Er schaltete den Motor aus, öffnete die Tür, stieg aus, holte ein weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und band es an die Antenne. Dann schlug er die Tür zu und steckte seinen Kopf durch das offene Fenster herein. »Andy«, warnte er mich, »keinen Mucks!«
Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Motorhaube. Ich kurbelte meine Scheibe hoch und versuchte meine Befürchtungen zu verdrängen, aber letztlich starrte ich einfach gebannt auf die Straße und hoffte, dass der herannahende Wagen vorbeifahren würde. Nach einer Weile hörte ich den Motor. Die Scheinwerfer kamen näher, nur noch Sekunden entfernt.
Ein Mini-Van fuhr vorbei. Im Rückspiegel sah ich seine Bremslichter aufleuchten. Der Van drehte, fuhr langsam zu uns zurück und blieb auf der anderen Straßenseite stehen. Die Fahrertür ging auf, worauf sich automatisch die Innenbeleuchtung einschaltete. Kinder auf dem Rücksitz. Ein Mann in unserem Alter stieg aus, sagte etwas zu seiner Frau und ging vertrauensvoll auf Orson zu. Seine Kinder beobachteten uns durch die getönte Fensterscheibe.
Der Mann trug khakifarbene Shorts, Mokassins und ein rotes, kurzärmliges Poloshirt. Er sah aus wie ein Rechtsanwalt, der auf Familienurlaub quer durchs Land fuhr.
»Probleme mit dem Wagen?«, fragte er, während er die gestrichelte gelbe Linie überquerte und am Straßenrand stehen blieb.
Mein Bruder lächelte. »Ja, aber ich weiß nicht, was es ist.«
Durch die Windschutzscheibe nahm ich ein weiteres Paar nach Norden gerichteter Lichter wahr.
»Kann ich Sie ein Stück mitnehmen oder Ihnen mein Handy leihen?«, bot der Mann an.
»Es ist schon jemand unterwegs«, erwiderte Orson. »Möchte Ihnen keine Umstände machen.«
Gott sei Dank!
»Nun, ich wollte Ihnen einfach meine Hilfe anbieten. Kein guter Ort für eine Panne.«
»Das können Sie laut sagen«, Orson streckte seine Hand aus. »Trotzdem vielen Dank.«
Der Mann lächelte und schüttelte die Hand meines Bruders. »Schätze, wir machen, dass wir weiterkommen. Wir hoffen, noch vor Mitternacht Yellowstone zu erreichen. Die Kinder sind ganz wild auf diesen verdammten Geysir.«
»Dann eine gute Fahrt«, verabschiedete sich Orson. Der Mann überquerte die Straße
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