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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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Nun, Jungs, dann habt ‘ne gute Reise.«
    »Danke«, sagte ich, »ach, und noch etwas. Wie heißt diese Bergkette hier, die im Norden und Osten verläuft?«
    »Das sind die Wind Rivers. Die schönsten Berge im ganzen Bundesstaat. Ziehen weniger von diesen verdammten Touristen an als die Tetons und Yellowstone.«
    Percy zog ein silbernes Feuerzeug aus der Tasche und entzündete seinen Joint von neuem. Dann nickte er mir zu, klopfte mit seinem Bein sanft gegen den Bauch des Pferdes, schnalzte und trabte davon.

Kapitel 11
     
    Mitten am Nachmittag kehrte ich schweißtriefend zurück in die Hütte. Orson lag mit nacktem Rücken auf den kalten Steinen des Wohnzimmerbodens und hielt ein Buch in Händen. Ich trat vorsichtig über ihn hinweg und ließ mich aufs Sofa fallen.
    »Was liest du?«, fragte ich und bewunderte dabei seine perfekte Bauch- und Brustmuskulatur, die zuckte, wenn er atmete.
    »Ein Gedicht, das du gerade ruiniert hast.« Er warf das Buch über den Boden und versuchte mir in die Augen zu sehen. »Ich muss ein Gedicht von Anfang bis Ende ohne Unterbrechung lesen können. Nur so blüht Poesie. Sie muss als Ganzes gesehen werden und nicht in zersplitterten Stücken.«
    »Welches Gedicht?«
    »›Die hohlen Männer‹«, erwiderte er ungeduldig und starrte hinauf zu den stützenden Balken des Dachstuhls. Plötzlich sprang er auf, wobei er allein die Kraft seiner Beine nutzte. Er setzte sich neben mich auf das Sofa, klopfte sich mit den Fingern auf die Knie und beobachtete mich mit unruhigem Blick. Ich fragte mich, ob er wohl den Cowboy gesehen hatte.
    »Geh und mach dich frisch«, sagte er plötzlich.
    »Warum?« Sein Blick wurde stechender. Er brauchte mich nicht zweimal aufzufordern.
     
    Im Seitenspiegel beobachtete ich die kleiner werdende Hütte. Die Sonne war gerade hinter dem Horizont versunken und erleuchtete den westlichen Rand des Himmels eben noch mit einem rosavioletten Schein. Die Wüste hatte sich im Schatten bereits dunkelrot verfärbt, und ich beobachtete, wie das Land langsam wieder schwarz und leblos wurde. Während wir gen Osten fuhren, blickte ich geradeaus. Die Nacht brach über die Wind-River-Berge herein.
    Wir fuhren über eine primitive Sandpiste und hinterließen eine Staubspur ähnlich dem Kondensstreifen eines Flugzeugs. Seit wir die Hütte verlassen hatten, hatte Orson kein einziges Wort mehr gesprochen. Ich kurbelte das Fenster hinunter und ließ die Abendluft mein sonnenverbranntes Gesicht kühlen.
    Orson trat so energisch auf das Bremspedal, dass der Wagen schlitternd zum Stehen kam. Etwa hundert Meter vor uns lag ein leerer Highway, der gleiche, den ich vom Hügel aus gesehen hatte. Orson griff in das Fach unter seinem Sitz, holte ein Paar Handschellen hervor und ließ sie in meinen Schoß fallen. »Schließ das eine Ende um dein rechtes Handgelenk und mach das andere Ende an der Tür fest.«
    Ich legte die Handschellen wie befohlen an. »Was machen wir hier?«, fragte ich.
    Er beugte sich zu mir herüber und überprüfte die Handschellen, dann stellte er den Motor ab. Es wurde sofort still, denn der Wind war mit Einsetzen der Abenddämmerung abgeklungen. Ich beobachtete Orson, der stur vor sich hin blickte. Er trug einen neuen blauen Arbeitsoverall und wieder diese Schlangenlederstiefel. Ich trug einen braunen Arbeitsanzug, der bis auf die Farbe dem seinen glich. Einer der vier Schränke im Flur zwischen den Schlafzimmern und dem Wohnzimmer war bis oben hin damit gefüllt.
    Orsons Bart war gewachsen und bildete den gleichen Schatten auf seinem Gesicht wie meiner bei mir. Derart subtile Dinge festigen das Band zwischen Zwillingen, und während ich Orson anschaute, spürte ich einen Funken Vertrautheit in einem Gefäß, in dem diese Liebe schon vor langer Zeit ausgetrocknet war. Aber dies war nicht der Mann, den ich gekannt hatte. Du bist ein Monster. Meinen Bruder zu verlieren, hatte dem Verlust eines wichtigen Körperteils geglichen, doch wenn ich ihn nun betrachtete, fühlte ich mich wie ein Amputierter mit dem Alptraum, dass die verlorene Gliedmaße wieder anwächst – dämonisch und nicht mehr dem eigenen Willen gehorchend.
    »Hast du Mutter häufig gesehen?«, fragte Orson, den Blick fest auf den Highway gerichtet.
    »Ich fahre zweimal pro Monat hoch nach Winston. Wir essen zusammen Mittag und besuchen Vaters Grab.«
    »Was trägt sie?«, fragte er, ohne mich anzuschauen, den Blick immer noch auf die Straße gerichtet.
    »Ich verstehe nicht…«
    »Ihre Kleidung. Was

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