Bruderherz
raus.«
»Wenn er nicht so ein guter Redakteur wäre, hätte ich ihn schon längst zum Teufel gejagt. Aber ich bezahle ihn schließlich nicht dafür, ein angenehmer Mensch zu sein. Solange er grammatikalisch perfekte Texte abliefert, könnte er von mir aus der Fürst der verdammten Finsternis sein.«
»Guter Gott, ich bewundere deine Prinzipien!« Wieder lachten wir gemeinsam. Dann herrschte einen Moment lang Schweigen, doch nach dem Gelächter wirkte die Stille recht ungezwungen. Walter blickte von seinem Bier auf und sah mich an.
»Andy«, sagte er, »willst du mir nicht verraten, was los ist?«
Ich schaute in Walters Augen und wollte alles loswerden. Der Drang, einem anderen Menschen zu erzählen, wo ich gewesen war und was ich getan hatte, war übermächtig.
»Ich weiß es einfach nicht.«
»Es hat mit deiner Reise diesen Mai zu tun, oder?«
Ich hielt die Luft an und dachte nach. »Es hat nur damit zu tun.«
»Sind es die Steuern?«, fragte er. »Hast du Ärger mit dem Finanzamt? Ganz ohne Scheiß.«
»Natürlich nicht.« Ich lachte.
»Warum kannst du es mir nicht anvertrauen?« Seine Augen verengten sich und ich zuckte mit den Schultern. »Dann rede doch mit mir.«
»Würdest du deine eigene Sicherheit aufs Spiel setzen oder eine Gefängnisstrafe riskieren, um zu erfahren, was mit mir los ist?«
Er setzte sich auf und stellte die halb leere Flasche auf den Boden. »Ich weiß, dass du das für mich tun würdest.«
Mein Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken an die Wüste. Ich leerte mein Glas und blickte in seine braunen Augen. Sein graues Haar war seit Mai beträchtlich gewachsen. »Du weißt, dass ich einen Zwillingsbruder habe?«
»Du hast es mal erwähnt. Er ist verschwunden, oder?«
»Wir waren damals einundzwanzig. Spazierte einfach eines Abends aus unserem Schlafzimmer und meinte: ›Du wirst mich eine Weile nicht sehen.‹«
»Schätze, das war ganz schön hart für dich.«
»Ja, es war hart. Im Mai hat er Kontakt zu mir aufgenommen. Walter, du darfst es niemandem erzählen. Weder Beth noch…«
»Keiner Seele«, erwiderte er.
»Erinnerst du dich an die schwarze Lehrerin, die im Frühjahr spurlos verschwunden ist?«
»Rita Jones?«
Ich schluckte. Wenn du jetzt weitersprichst, hängt er mit drin. Denk darüber nach. Du bist zu betrunken, um diese Entscheidung zu treffen.
»Sie ist in meinem Wald begraben.« Walter wurde bleich. »Mein Bruder Orson hat sie dort hingebracht. Er hat mich erpresst. Hat mir erklärt, mein Blut würde an ihr kleben, und das Messer, mit dem er sie umgebracht hat, sei in meinem Haus versteckt. Er wollte zur Polizei gehen, wenn ich ihn nicht aufgesucht hätte. Hat damit gedroht, unsere Mutter zu bestrafen.«
»Du bist betrunken.«
»Willst du die Leiche sehen?«
Walter starrte mich zweifelnd an. »Er hat sie ermordet?«
»Ja.«
»Warum?«
»Er ist ein Psychopath«, erwiderte ich und bemühte mich, nicht zu zittern.
»Was wollte er von dir?« Tränen traten mir in die Augen, ich konnte sie nicht zurückhalten. Sie rannen mir die Wangen hinab, und als ich sie wegwischte und Walter ansah, musste ich erneut heulen.
»Grauenhaft«, sagte ich mit zitternden Lippen. Die Tränen rannen das Kinn herab.
»Wohin bist du gefahren?«
»Eine Wüste in Wyoming.«
»Warum?« Ich antwortete nicht, und Walter ließ mir einen Moment Zeit, mich wieder zu sammeln. Er wiederholte seine Frage nicht. »Wo ist er jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Er könnte überall sein.«
»Und du bist nicht zur Polizei gegangen?«
»Er hat meine Mutter bedroht!« Meine Stimme schnappte über und war bis in die obere Etage zu hören. »Außerdem, was sollte ich denen denn sagen? Mein Zwillingsbruder hat Rita Jones umgebracht und sie auf meinem Grundstück vergraben? Ach, und übrigens, mein Blut klebt an ihr, sie wurde mit meinem Tranchiermesser ermordet und mein Bruder ist verschwunden, aber ich schwöre, dass ich’s nicht war!«
»Was hast du denn für eine Wahl?«, fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn das stimmt, was du sagst, werden so lange Leute sterben, bis er gefasst ist. Beth oder John David könnten die Nächsten sein. Ist dir das egal?«
»Was mir nicht egal ist«, erklärte ich, »ist, dass, selbst wenn ich Orson fände und ihn auf ein Polizeirevier schleppen könnte und den Beamten erzählen würde, was er getan hat, Orson als freier Mensch hinausspazieren würde. Ich habe keine Beweise, Walter. Dem Gericht wäre es scheißegal, dass ich weiß, dass Orson ein
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