Bruderherz
Vorlesungsverzeichnis muss ich aus dem Wandschrank holen.« Sie durchquerte den Raum und raunte im Vorübergehen einer anderen Sekretärin irgendetwas zu. Ich schlug das Telefonnummernverzeichnis auf und suchte den Buchstaben P. Es war nur fünfzig Seiten stark, die ersten zehn Seiten für die Fakultäten und die restlichen vierzig Seiten für die dreitausend Studenten.
Page. Paine. Parker, David, L. Die Information unter dem Namen war spärlich – lediglich eine Büronummer, Gerard 209, und eine entsprechende Telefonnummer.
Die Frau kam zurück und reichte mir das Vorlesungsverzeichnis. »Bitte schön.«
»Vielen Dank. Finden heute Vorlesungen statt?«, fragte ich, während ich mich erhob.
Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Normalerweise ja«, erklärte sie, »aber da der erste Schnee in diesem Jahr gefallen ist, werden die meisten Studenten heute blaumachen und Ski fahren.«
Ich bedankte mich erneut und verließ das Büro. Im Foyer kam ich an drei Studentinnen vorbei, die neben der Statue flüsternd beisammenstanden. Ich verließ das Gebäude, ging durch das Schneegestöber zu dem Aussichtsturm zurück und setzte mich auf die Bank, die innen im Gebäude kreisförmig an der Wand entlanglief. Zunächst faltete ich den Plan auf und suchte das Gerard-Gebäude. Ich konnte es von meinem Sitzplatz aus sehen. Ein zweistöckiges Backsteingebäude mit demselben altmodischen Charme wie die restlichen Gebäude.
Ich wärmte meine Hände mit meinem heißen Atem und schlug das Vorlesungsverzeichnis auf – ein dickes Heft, das auf den ersten zehn Seiten nichts weiter als Informationen zur Kursanmeldung und zum Bücherkauf enthielt. Dann fand ich allerdings auch eine alphabetische Liste der Vorlesungen mit entsprechenden Zeitangaben, und nach kurzem Durchblättern der Anthropologie, Biologie, Kommunikationswissenschaften, Englisch und Französisch stieß ich schließlich auf die für das Wintersemester 96 angesetzten Geschichtsvorlesungen. Sie nahmen eine ganze Seite ein; ich ging die Liste durch, bis ich seinen Namen las:
Gesch 089 Geschichte Roms Saal 3.0 35
26229 001 Do 11:00 – 12:15 HD 107 Parker, D.L.
Offensichtlich die einzige Vorlesung, die er hielt, und ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass sie gerade jetzt lief.
Dem Abkürzungsschlüssel der Gebäude zufolge stand HD für Howard-Gebäude, das auf dem blauen Plan leicht zu finden war. Keine zwanzig Meter entfernt gehörte es zu den Gebäuden, die dem Aussichtsturm am nächsten lagen. Mein Herz begann heftiger zu schlagen, als ich den Gehweg hinunter zum Eingang des Gebäudes sah.
Ohne zu überlegen stieg ich die Stufen vom Aussichtsturm herab und ging auf das Howard-Gebäude zu. Da es links vom Verwaltungsgebäude lag, bildete sich durch diese östliche Umfriedung sozusagen ein Innenhof. Auf den Stufen saßen zwei rauchende Studenten, und als ich an ihnen vorbeiging und die Tür berührte, musste ich unwillkürlich denken: Was, wenn er es nicht ist? Dann komme ich ins Gefängnis und Walter und seine Familie werden sterben.
Noch während ich die Tür hinter mir zuzog, hörte ich seine Stimme. Sein eindringlicher Flüsterton war im gesamten Erdgeschoss des Gebäudes zu hören und versetzte mich sofort zurück in die Wüste von Wyoming. Langsam verließ ich das Foyer, deren Wände mit Anschlägen zu politischen Veranstaltungen, Zimmerinseraten und allen möglichen Informationen zugeklebt waren. In dem etwas dunkleren Flur drang Licht aus einem Türspalt, dahinter brach gerade eine Vielzahl von Stimmen in Gelächter aus. Orsons Stimme war auch über das Trommeln seiner Studenten zu hören, so bog ich in einen Flur nach rechts ab und gab Acht, dass meine Schritte nicht hallten.
Seine Stimme wurde lauter und bald konnte ich jedes Wort verstehen. Einige Schritte vor der Tür hielt ich an und lehnte mich gegen die Wand. Aus der Lautstärke des Gelächters schloss ich, dass seine Vorlesung vermutlich von dreißig bis vierzig Studenten besucht wurde. Orson sprach erneut und nur noch die Wand trennte mich von seiner Stimme. Obwohl ich am liebsten davongelaufen wäre, um mich weit entfernt von dieser Stimme in einem Schrank oder in einer Toilette zu verstecken, blieb ich stehen und lauschte weiter, im Vertrauen darauf, dass er keinen Grund hatte, gerade jetzt hinaus auf den Flur zu treten.
»Ich möchte Sie bitten, Ihre Kugelschreiber und Stifte hinzulegen«, sagte er, worauf ein metallisches Klopfen auf Holz aus dem Raum erklang, »denn um Geschichte
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