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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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Angst?«
    »Wir dürfen das nicht vermasseln«, erklärte er. »Uns darf nicht der geringste Fehler unterlaufen.«
    Als ich in den Abendhimmel über Vermont hinausschaute, in diese fremde Dunkelheit, stieg Heimweh in mir auf. Ich gestand mir diesen vertrauten Schmerz meiner Kindheit ein und wartete, bis er verflogen war.
    »Danke, dass du mitgekommen bist«, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du hättest es nicht tun müssen, Walter, und ich werde dir das nie vergessen.«
    Er drehte sich um und schaute mich an. »Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte er. »Gar nichts.«
     
    An einem kalten, bewölkten Donnerstag parkte ich um elf Uhr morgens Walters Cadillac im Zentrum von Woodside und ging zügigen Schrittes auf den Campus zu. Die Straßenseiten des für seine Größe ungewöhnlich lebhaften Städtchens wurden von zwei- und dreistöckigen Gebäuden gesäumt. Die Bürgersteige waren voller Menschen, die auf Bänken saßen, auf Rollerblades fuhren oder die Schaufenster betrachteten. Die meisten von ihnen waren Studenten, wie an den Rucksäcken und den unbeschwerten Gesichtern unschwer zu erkennen war.
    Ich ging an einer Apotheke, dem Supermarkt, dem Valley Café, mehreren Bekleidungsgeschäften und einem Straßencafé namens Beans ‘n’ Bagels vorbei, vor dem auf dem Gehweg mehrere Tische unter einer Markise standen. Mit den vielen Koffeinabhängigen und der ungewöhnlichen Musik war es der belebteste Ort weit und breit. Draußen vor dem offenen Eingangsbereich war die Luft erfüllt vom kräftigen Geruch gerösteter Kaffeebohnen. Hätte ich nicht bereits zwei Tassen Kaffee in unserem Gasthof getrunken, in dem Walter erschöpft von der langen Fahrt des Vortags immer noch schlief, hätte ich mir auch eine Tasse bestellt.
    Die Gebäude hörten auf, aber der Gehweg verlief aus dem Zentrum weiter bis zum bewaldeten Campus. Jetzt konnte ich auch die Berge sehen, die das Städtchen umgaben. Der erste Schnee hatte die höchsten Gipfel bereits weiß gefärbt. Ich überlegte, wie viele Studenten wohl heute ihre Seminare schwänzten, um Ski zu fahren. Ein eisiger Wind trieb mir Tränen in die Augen; ich zog den Reißverschluss meiner Lederjacke bis unters Kinn hoch und vergrub meine Hände in den warmen Taschen.
    Vom Bürgersteig ging ein gepflasterter Weg ab, der geradewegs auf eine Gruppe von Backsteingebäuden zuführte. Ich folgte dem Weg und hatte schnell einen weißen, sechseckigen Aussichtsturm erreicht. Er schien genau in der Mitte des Campus zu stehen, umgeben von den meisten, nicht weiter als vierzig Meter entfernten Gebäuden. An jeder Seite des Aussichtsturms hing eine Plakette mit der Inschrift »College, gegr. 1800«.
    Ich ging die Stufen zu dem Säulengang hinauf, der das Gebäude trug und die größte von mindestens zehn Säulenhallen in der Umgebung war. Eine große, von einem Baugerüst umgebene Uhr überragte das Dach. Die beiden schwarzen Zeiger waren wie ein schlechtes Omen auf der Ziffer Vier stehen geblieben.
    In dem Gebäude roch es feucht und schal. Der Boden war aus poliertem Marmor, die holzgetäfelten Wände des Foyers schmückten große Porträts ehemaliger Dekane, Gründer und gestorbener Professoren. In der Mitte des kreisrunden Saals stand eine lebensgroße Statue, die mich ausdruckslos anstarrte. Ich sah nicht nach, um wessen Darstellung es sich handelte.
    Doppelte Glastüren versperrten den Weg zum Studentensekretariat. Beim Aufdrücken der Türen sah ich kurz mein Spiegelbild – mit den braunen Haaren und neuerdings einem Bart, der Metallgestellbrille, der khakifarbenen Hose und einem verwaschenen Jeanshemd unter dem Jackett sah ich überhaupt nicht mehr aus wie ich selbst.
    In dem hellen, fensterlosen Raum standen in offenen Nischen mehrere Schreibtische. Ich ging auf den nächsten zu, an dem eine Frau leidenschaftlich die Tastatur ihres Computers bearbeitete. Als ich näher kam, schaute sie von ihrem Bildschirm auf und lächelte.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Ich setzte mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Das ständige Geräusch der klappernden Tastaturen würde mich auf Dauer wahnsinnig machen.
    »Ich benötige einen Plan der Universität, ein Vorlesungsverzeichnis für dieses Semester und ein Telefonnummernverzeichnis.«
    Sie öffnete einen Aktenschrank und holte ein schmales Buch und ein blaues Heft heraus.
    »Hier sind der Plan und das Telefonnummernverzeichnis«, sagte sie und legte beides auf den aufgeräumten Schreibtisch. »Das

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