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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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zu begreifen, müssen Sie sie sehen. Geschichte ist mehr als nur bedruckte Seiten. Sie ist tatsächlich passiert. Das dürfen Sie nie vergessen. Legen Sie den Kopf auf den Tisch«, sagte er. »Sie alle. Los! Und nun schließen Sie die Augen.« Seine Schritte näherten sich der Tür. Er bediente einen Schalter, das Licht unter der Tür erlosch, dann entfernten sich seine Schritte wieder.
    »Megalomanie. Kann mir einer sagen, was das ist?«, fragte er.
    »Größenwahn!«, rief eine männliche Stimme in die Dunkelheit.
    »Gut«, meinte Orson. »Dabei handelt es sich um eine Geisteskrankheit und auch das sollten Sie nicht vergessen.«
    Der Professor schwieg eine halbe Minute, auch sonst blieb es still. Als er seine Stimme wieder erhob, klang sie kontrolliert und melodisch.
    »Wir schreiben das Jahr 39 vor Christus«, hob er an. »Sie sind ein römischer Senator, und Sie und Ihre Gattin wurden eingeladen, gemeinsam mit dem jungen Kaiser Gaius Caligula den Gladiatorenspielen beizuwohnen.
    Während des mittäglichen Zwischenspiels, bei dem Gefangene vor einer jubelnden Menge wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden, steht Caligula auf, nimmt Ihre Frau an der Hand und verlässt, von seinen Wächtern eskortiert, die Tribüne.
    Sie wissen genau, was passieren wird, auch die anderen Senatoren wissen Bescheid, denn das Gleiche widerfuhr auch ihren Frauen. Doch Sie unternehmen nichts. Unter dem blauen Frühlingshimmel bleiben Sie einfach auf den Steinstufen sitzen und schauen zu, wie die Löwen ihre Beute jagen.
    Eine Stunde später kehrt Gaius mit Ihrer Gattin zurück. Als sie sich wieder neben Sie setzt, bemerken Sie einen Bluterguss in ihrem Gesicht. Sie zittert fassungslos, ihr Gewand ist zerrissen und sie weigert sich, Ihnen in die Augen zu blicken. Außer Ihnen wurden sechs weitere Senatoren eingeladen, und plötzlich hören Sie, wie Caligula zu ihnen spricht.
    ›Ihre Brüste sind ziemlich klein‹, verkündet er so laut, dass jeder es hören kann. ›Und beim Sex ist sie eine Niete. Ich sehe mir lieber wieder die Löwen an, als sie noch einmal zu ficken.‹
    Er lacht und klopft Ihnen auf den Rücken und die anderen lachen mit ihm. Niemand widerspricht Gaius. Niemand fordert den Kaiser heraus. Alles reine Speichelleckerei; doch Sie sitzen da, kochen vor Wut und wünschen sich, niemals dieser Einladung Folge geleistet zu haben. Doch ein Wort gegen Caligula würde den sicheren Tod für Ihre Familie bedeuten. Das Beste ist, zu schweigen und zu beten, dass Sie nie wieder eine Einladung erhalten.«
    Orsons Schritte näherten sich der Tür. Ich trat zurück, doch er knipste lediglich das Licht wieder an. Von drinnen hörte ich, wie die Studenten hin und her rutschten und ihre Notizhefte wieder öffneten.
    »Kommenden Dienstag«, verkündete er, »sprechen wir über Caligula. Ich sehe, dass einige Ihrer Kommilitonen heute nicht unter uns sind, was womöglich mit dem gestrigen Schneesturm in den Bergen in Zusammenhang steht.« Die Studenten lachten. Es war längst unüberhörbar, dass sie ihn anhimmelten.
    »Wir werden nächsten Dienstag zu Caligula eine Art Quiz veranstalten. Also lernen Sie die Eckdaten. Wann wurde er geboren? Wann zum Kaiser gekrönt? Wann und wie starb er? Lesen Sie Kapitel einundzwanzig in Ihrem Buch, dann sollte es für Sie ein Kinderspiel sein. Ich schätze, Sie werden in ihm einen der vielschichtigsten, faszinierendsten und dennoch meist missverstandenen Herrscher der römischen Geschichte entdecken.« Er schwieg einen kurzen Moment. »Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.«
    Ich hörte, wie Hefte zugeschlagen und Rucksäcke geöffnet wurden. Dann schienen sich alle Studenten auf einmal zu erheben und zur Tür zu stürzen. Auch Orson würde herauskommen.
    Auf der anderen Seite des Flurs stand eine Tür halb offen. Ich kämpfte mich durch den Pulk der Studenten und verschwand unbeobachtet in einem dunklen, leeren Seminarraum. Dann starrte ich durch die Ritzen der Tür und wartete darauf, dass er auftauchen würde.

Kapitel 22
     
    Orson ging die Treppe hinunter und den Flur entlang. Ich wartete im Foyer des Howard-Gebäudes und beobachtete ihn durch das Fenster neben der Tür. Er trug einen Anzug aus beiger Wolle, eine rote Fliege, grüne Hosenträger, eine Brille mit dünnem Goldrand und unter dem Arm eine dunkelbraune Aktentasche. Als er hinter dem Aussichtsturm war, öffnete ich die Tür und folgte ihm. Mit schnellen Schritten überquerte er den Campus und verschwand im Gerard-Gebäude.
    Als ich

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