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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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er würde anfangen zu heulen oder gar schluchzend zusammenbrechen, sobald er allein war. Doch das geschah nicht. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich die Konturen seines Zimmers ausmachen – das Bild an der Wand, die Bücherregale, seine ausgestreckten Beine auf dem Bett. Durch das Dachfenster sah ich auf der anderen Seite des Tals Lichterreihen auf den schwarzen Hängen.
    Eine halbe Stunde später dachte ich, er sei eingeschlafen, und überwand mich, aus dem Schrank zu kriechen, um das zu tun, wozu ich gekommen war. Doch als ich mich bewegte, setzte er sich urplötzlich im Bett auf. Stocksteif vor Schreck beobachtete ich, wie Orson unter dem Bett etwas wie einen Schuhkarton vorzog und ihn auf die Matratze stellte. Er streifte seine Schuhe ab und kickte sie in unterschiedliche Richtungen von sich weg. Einer flog in den Kleiderschrank und hätte mich beinah am Kopf getroffen.
    Ich hörte ein mechanisches Klicken. Er lehnte sich wieder bequem zurück und begann mit leiser, monotoner Stimme zu sprechen. »Es ist Freitag der 8. November, 19 Uhr 43. Arlene ist heute Abend vorbeigekommen. Ich habe dir von ihr erzählt. Diese Anwaltsgehilfin aus Bristol. Fade Kuh. Es sollte heute Abend passieren. Ich habe den ganzen Tag an nichts anderes gedacht. Die ganze Woche. Doch sie hat mich – ich meine, meinen Namen – gegenüber ein paar Arbeitskolleginnen erwähnt, also hat sich die Sache erledigt. Es war eine Übung in Selbstbeherrschung. Ich habe noch nie ein Teppichmesser benutzt, umso enttäuschter bin ich, dass es heute Abend nicht geklappt hat. Wenn ich noch viel länger ohne Spielzeug auskommen muss, könnte mir wieder etwas Unbedachtes unterlaufen wie damals in Burlington. Aber du hast die Regel aufgestellt, es niemals hier in dieser Stadt zu tun, und es ist eine sinnvolle Regel, also verdirb es nicht.« Er hielt das Diktiergerät an, drückte dann jedoch erneut auf Aufnahme.
    »Ein Letztes noch. Ich war heute online und hab gesehen, dass James Keillers zweites Gnadengesuch abgelehnt wurde. Schätze, das heißt, dass sie bald das Datum der Hinrichtung festlegen werden. Eine wunderhübsche Sache, was ich da getan habe. Wirklich. Ich werde vielleicht hoch nach Nebraska fahren müssen, wenn sie ihn auf den Stuhl setzen. Und ich bin ziemlich sicher, dass sie dort in diesem Staat der Maisschäler den elektrischen Stuhl benutzen.«
    Er legte das Diktiergerät wieder in den Schuhkarton und holte etwas anderes heraus. Dann stieg er vom Bett und ging zu der Kommode, auf der ein Fernseher und ein Videoplayer standen. Er legte eine Videokassette ein und schaltete den Fernseher an. Als die ersten Bilder sichtbar wurden, legte er sich mit dem Kopf zur Matratzenkante bäuchlings aufs Bett, stützte die Ellbogen auf und legte sein Kinn in die Hände.
    Der Film war in Farbe. O Gott! Die Scheune! Ich bekämpfte einen Anfall von Übelkeit.
    »Das ist Cindy und sie hat gerade den Test nicht bestanden. Sag Hallo, Cindy.«
    Die Frau war nackt und mit dem Lederhalsband an den Pfahl gefesselt. Orson richtete die Kamera auf sich selbst. Sein Gesicht war verschwitzt, seine Augen funkelten und er hatte ein strahlendes Lächeln aufgesetzt.
    »Cindy hat das fünfzehn Zentimeter lange Ausbeinmesser gewählt.«
    »Aufhören!«, kreischte sie.
    Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen. Die Angst in ihrer Stimme machte mich krank. Wenn auch etwas gedämpft, konnte ich die schrillen Schreie gut hören. Auch Orson machte Geräusche auf dem Bett. Ich blinzelte und sah, dass er sich auf den Rücken gedreht hatte, den Bildschirm verkehrt herum betrachtete und sich dabei einen runterholte.
    Die Szene, die zeigt, wie Orson sie tötete, war nicht besonders lang, daher schaute er sie sich immer und immer wieder an. Wenn ich mich ganz auf meinen Herzschlag konzentrierte, konnte ich den Fernseher und Orsons Stöhnen beinah vollständig verdrängen. Ich zählte die Schläge und kam bis 704.
     
    Als ich meine Augen wieder öffnete, war es still im Zimmer. Ich war eingenickt und bekam Panik bei dem Gedanken, dass ich vielleicht geschnarcht oder wertvolle Stunden schlafend im Schrank vergeudet hatte. Ich schaute auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass es erst kurz nach halb zehn war. Walter und ich hatten also immer noch den Großteil der Nacht, um meinen Bruder zu töten.
    Vom Bett her waren tiefe Atemzüge hörbar. Ich erkannte das für Orson typische lange Ausatmen. Da er mit fast absoluter Sicherheit schlief,

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