Bruderherz
dir sind und wer der Mann ist, der auf Jennas Arm geschrieben hat.«
Ich wandte den Kopf und blickte Walter in die Augen. Der Alkohol ließ meine Wangen glühen.
»Worauf du dich verdammt noch mal verlassen kannst!«
Wir trugen ihn zur Haustür hinaus und die Stufen hinab. Der Mond schien leichenblass durch das blattlose, kalligrafische Geäst der Bäume. Der Alkohol hatte mein Gesicht betäubt und milderte die stechende Kälte.
Der Teppich passte nicht in den Kofferraum, daher rollten wir ihn wieder auf und Orson glitt in den dunklen, leeren Hohlraum. Ich überprüfte seine Atmung. Sie war zwar regelmäßig, aber sehr flach. In einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging das Licht an. In dem Erkerfenster erschien der Schatten eines Mannes.
»Mach schon, Walter«, sagte ich. »Hier ist so ziemlich der schlimmste Ort, an dem wir uns aufhalten können.«
Wir fuhren den Weg zurück, den wir gekommen waren, zunächst den Hügel hinunter und dann rechts in die Hauptstraße. Ich starrte aus dem Fenster, als wir am Campus vorbeikamen, die gepflasterten Wege waren beleuchtet, aber menschenleer. Ein Stückchen weiter konnte ich kurz den Aussichtsturm sehen und die Stelle, an der ich gestern im Schnee gestanden hatte, um den Mann zu suchen, der nun bewusstlos im Kofferraum lag.
»Wir haben das Arschloch erwischt, oder nicht?«, sagte ich und grinste unter dem Alkoholeinfluss.
»Ich beglückwünsche uns erst, wenn er hundert Pfund kalten Dreck auf seinem Gesicht liegen hat und wir wissen, wo der Mann ist, der meine Tochter bedroht hat.«
Gegen 22 Uhr ereichten wir das Zentrum von Woodside. Trotz der Kälte waren viele junge Leute auf den Bürgersteigen. Ihr Atem ließ Hunderte von kleinen Wölkchen entstehen und durch die Scheibe hörte ich ihre lauten Stimmen. Vor den miteinander konkurrierenden Bars auf beiden Straßenseiten standen reihenweise erwartungsvolle Studenten, die in die heitere Wärme im Innern drängten. Für mich war das allzu verständlich. In dieser Stadt war es so verdammt eisig, dass man gar nichts anderes machen konnte, als zu trinken.
Knapp acht Meilen hinter dem Straßencafé fuhr Walter an den weichen, breiten Straßenrand der 116. Er ließ den Wagen noch etwa dreißig Meter durch das Gras rollen und hielt dann im Schatten zweier Eichen.
»Dein Spaten steht dahinten«, erklärte er, während er den Motor ausschaltete. »Ich hab ihn dort an einen Baum gelehnt stehen sehen.« Ich drehte mich um und blickte durch die Heckscheibe. Nichts bewegte sich auf dem in kaltes, blaues Mondlicht getauchten Highway.
»Was macht dein Gesicht?«, fragte er.
»Meine Nase fühlt sich an, als wäre sie gebrochen, ist sie aber nicht.« Sie fühlte sich heiß an und die Haut über dem geschwollenen Nasenrücken zog. Mein linkes Auge war fast vollständig zugeschwollen, tat jedoch überraschenderweise nicht weh.
»Hilfst du mir, ihn rauszuholen?«, fragte ich.
Das Zuschlagen der beiden Autotüren hallte in dem Kiefernwald und den Hang hinauf. Irgendwo über uns schrie eine Eule, und ich stellte mir vor, wie sie mit weit geöffneten Augen auf dem mit Flechten überzogenen Ast einer knorrigen Kiefer saß. Ich war leicht betrunken von dem Cognac und schwankte etwas auf dem Weg zum hinteren Teil des Cadillacs.
Walter steckte einen Schlüssel ins Schloss und ließ den Kofferraumdeckel aufspringen. Orson lag auf dem Bauch, die Arme über dem Kopf. Ohne zu Zögern ergriff ich seine Arme oberhalb der Ellbogen, zog ihn aus dem Kofferraum und ließ ihn ins Gras fallen. Trotz seines nackten Oberkörpers weckte ihn die Kälte nicht auf. Walter öffnete die hintere Tür und hob die Beine meines Bruders an. Wir quetschten ihn auf den Rücksitz, anschließend setzte Walter sich auf ihn und fesselte ihm mit Handschellen die Hände hinter dem Rücken. Dann drehte er Orson um und schlug ihn fünfmal fest ins Gesicht. Ich schwieg, eilte zu meiner Tür und setzte mich hinein. »Stell die Heizung an«, sagte ich. »Es ist saukalt.«
Walter drehte den Zündschlüssel um und schaltete in den geräuschlosen Leerlauf. Ich beugte mich vor und hielt mein Gesicht vor die Lüftung, damit die vom Motor erwärmte Luft meine Wangen auftauen konnte.
»Orson«, sagte ich und kniete mich dabei auf meinen Sitz, um nach hinten blicken zu können. Er lag regungslos und von Tür zu Tür ausgestreckt auf dem Bauch. Ich konnte sein Gesicht sehen – seine Augen waren geschlossen. Ich griff nach hinten und schüttelte ihn kräftig
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