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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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für eine Sache wirklich einzusetzen. Es tat ihr in dem Moment leid, als sie es sagte, doch da war es bereits zu spät.
    Willi warf seine Serviette auf den unberührten Teller und ging.
    Clara zahlte zerknirscht für sie beide und warf Rita, die Willi besorgt nachgeblickt hatte und jetzt Anstalten machte, sich zu ihr zu setzen, einen warnenden Blick zu, sodass sie stattdessen nur wortlos das Geld nahm und in der Küche verschwand.
     
    Zu Hause setzte sich Clara an den Schreibtisch und stapelte Ruths Akten um sich herum. Während sie die unzähligen grünen Mappen betrachtete und ihr Blick an dem namenlosen grauen Ordner mit den Versuchsaufzeichnungen hängenblieb, packte sie erneut die Wut auf Viktor Selmany.
     
    Eigentlich hatte sie mit Schritten gegen die Klinik warten wollen, bis der Mord an Johannes Imhofen geklärt und Ruth aus der Schusslinie war. Doch das ging jetzt nicht mehr. Nicht nach diesem Frontalangriff in der Zeitung. Sie musste jetzt sofort handeln. Sie musste die Tatsachen auf den Tisch legen. Jetzt, jetzt war die Aufmerksamkeit da. Jetzt konnte sie den Spieß umdrehen und Selmany entlarven. Wenn sie es nicht gleich machte, würde die Wirkung verpuffen, würden alle Vorwürfe langsam versanden.
    Das, was sich auf den ersten Blick als Katastrophe dargestellt hatte, nämlich Ruths Verschwinden und das Eingeständnis ihrer Schuld, das alle Welt damit verband, entpuppte sich nun, nachdem Clara die Briefe gefunden hatte, als Chance. Ihr kam es so vor, als befände sie sich in einem Wellental. Die erste Woge gerade überstanden und die nächste wartete bereits drohend über ihr. Doch in dem Augenblick der Erwartung herrschte Stille.
    Sie nahm einen Zettel und kritzelte abwesend darauf herum, während sie überlegte, wie sie es am besten anstellen konnte, die momentane Aufmerksamkeit für sich zu nutzen. Die vorbereitete Klage war nicht das richtige Mittel. Zu lange dauerten die Fristen, zu schwerfällig war der Justizapparat, um schnell zurückzuschießen.
    Sie hielt einen Augenblick inne. Zurückschießen … murmelte sie und kniff konzentriert die Augen zusammen. Ja, warum eigentlich nicht? »Was du kannst, kann ich schon lange«, sagte sie leise an ein imaginäres Gegenüber gewandt. Doch es gab einen Pferdefuß: Sie brauchte Hilfe. Und zwar von der Person, die eigentlich die letzte war, die sie darum bitten würde. Sie betrachtete den Zettel vor sich, der über und über mit Mustern und Formen vollgekritzelt war. In der Mitte stand ein Name, fett umringelt und mit Ausrufezeichen versehen. Clara seufzte.
     
    Kommissar Gruber überlegte, ob er nach Hause gehen sollte. Es war Freitagabend, und es gab nichts mehr zu tun für heute. Es gab im Augenblick überhaupt nicht wirklich etwas zu tun, wenn man einmal von dem üblichen Bürokram absah. Er war ausgebremst worden. Es war Stillstand in den Ermittlungen eingetreten, und er, er selbst war schuld daran. Natürlich hatte er die Zeitung heute Morgen gelesen, hatte sein dummes Gesicht ansehen müssen und die reißerischen Schlagzeilen. Sein Vorgesetzter hatte ihn heruntergeputzt wie einen Schuljungen, und er, er musste ihm sogar recht geben.
    Unschlüssig schob er seine Papiere auf dem Schreibtisch hin und her. Er wollte nicht nach Hause gehen. Seine Frau war gestern Abend ausgezogen. Mit Sack und Pack zu diesem Arsch von Versicherungsvertreter. Zu dieser Null. Er schüttelte den Kopf. Es sollte ihm doch nur recht sein. Alles war besser, als sie jeden Tag sehen zu müssen und gleichzeitig zu wissen, dass sie mit diesem Kerl vögelte, wann immer sich die Gelegenheit bot. Aber genau daran konnte er jetzt, nachdem sie ausgezogen war, merkwürdigerweise nicht denken, so sehr er sich auch bemühte, sich alle Details vorzustellen und sich immer tiefer in diesen Schmerz, in diese Wut hineinzuwühlen. Es gelang ihm nicht.
    Er dachte stattdessen an den Küchentisch, auf dem noch sein Frühstücksgeschirr von heute Morgen stand und auf ihn wartete. Er sah ihren leeren Kleiderschrank im Schlafzimmer vor sich und die leere Bettseite. Und ihre verdammten Blumen. Die hatte sie ihm dagelassen, Alpenveilchen und einen Weihnachtskaktus auf dem Fensterbrett. Aus dem Fenster würde er sie schmeißen, mitsamt den geblümten Übertöpfen. Er sah sich selbst heute Abend und das ganze Wochenende im Wohnzimmer sitzen, ein Bier vor sich auf dem Couchtisch und das blaue Flimmern des Fernsehers.
    Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog, und beschloss, dass es Hunger sein musste.

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