Brudermord
eigentlich von mir?«, brummte der Kommissar, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Clara zögerte. Sie ermahnte sich innerlich, geduldig, liebenswürdig und vor allem so überzeugend wie nur irgend möglich zu sein. »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte sie.
»Ach!« Gruber verharrte mitten in der Bewegung und beugte sich wieder nach vorne. »Hilfe? Von mir? Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen helfen könnte?« Sein Ton war sarkastisch.
Clara zuckte mit den Schultern. Ihr Blick wanderte wieder zu der Zeitung und dann zurück zu Gruber. Sie sah ihm direkt in die Augen. »Vielleicht weil wir im gleichen Boot sitzen?«
Gruber lachte. Er klopfte auf den Tisch und schüttelte amüsiert den Kopf: »In einem Boot! Das ist gut.« Er lachte lautlos weiter, und seine Schultern bebten dabei.
Clara ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sie wollen wissen, ob es Ruth Imhofen gewesen ist, und ich auch«, meinte sie schließlich und registrierte, wie Gruber überrascht den Kopf hob, während sie weitersprach: »Ich denke, sie war es nicht, aber ich weiß es genauso wenig wie Sie, und Sie lassen sich genauso von Ihren Gefühlen leiten wie ich und wie es damals Pater Roman getan hat.«
Sie hob die Hand, als Gruber protestieren wollte, und redete bedächtig weiter.
»Im Augenblick stehen wir doch alle vor der Situation, dass wir nicht wissen, was passiert ist. Sie ebenso wenig wie ich oder der Pater, der sich auch nicht sicher ist, ob er einen Fehler gemacht hat, egal, was Sie von ihm halten mögen. So gesehen, sitzen wir alle im gleichen Boot: Wir wollen herausfinden, was passiert ist. Und, zumindest ich für meinen Teil, und ich denke, Ihnen geht es nach dem heutigen Artikel nicht anders, habe die Schnauze voll von diesen Vorverurteilungen und dem Verdrehen der Tatsachen, alles im Dienste der Information der Öffentlichkeit.«
Sie verzog den Mund, als sie an Selmanys beleidigende Worte dachte, und spürte wieder, wie die Wut zurückkam.
Gruber sah sie jetzt aufmerksam an. Er widersprach nicht mehr, aber es war ihm anzusehen, dass er keine Ahnung hatte, worauf sie hinauswollte. »Und warum kommen Sie damit ausgerechnet zu mir?«, fragte er schließlich, und aus seiner Stimme klang eine Mischung aus Skepsis und Neugier.
Clara öffnete ihre Tasche und hob den Stapel Akten heraus. Effektvoll knallte sie ihn auf den Schreibtisch. »Weil«, sie klopfte auf die oberste Akte, »weil ich eine ganze Menge weiß, was Sie nicht wissen, und weil Sie etwas tun können, was ich nicht tun kann.«
»Aha.« Grubers Gesicht verdüsterte sich. »Ihnen ist aber schon klar, dass das Zurückhalten von Beweismitteln strafbar …«
Clara winkte heftig ab. »Es hat nichts mit dem Mord an Johannes Imhofen zu tun. Zumindest nicht unmittelbar. Aber es könnte ein paar Dinge in einem anderen Licht zeigen.«
Gruber sah sie schweigend an und wartete.
Clara holte Luft, dann sagte sie: »Ich möchte Strafanzeige erstatten gegen Viktor Selmany und Agnes Thiele als Leiter der Klinik Schloss Hoheneck wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und möglicherweise Körperverletzung mit Todesfolge.«
Es dauerte bis zum Abend, Gruber alle Details von Ruths Geschichte darzulegen. Doch Clara hatte sich gut vorbereitet. Sie dröselte alle Punkte sorgfältig auf, legte Gruber alle Belege vor, die sie hatte, und erklärte ihm anhand der amerikanischer Fachartikel und des recherchierten Materials ausführlich die Auswirkungen der Camera silens. Sie legte ihm Berichte von Menschenrechtsorganisationen vor, die die Camera silens als eine Methode der weißen Folter, so genannt, weil sie keine sichtbaren Spuren am Opfer hinterließ, seit Jahren scharf anprangerten und die Länder aufzählten, in denen dies an Gefangenen immer wieder bis in die Gegenwart hinein praktiziert wurde.
Grubers anfängliche Skepsis verwandelte sich während Claras Aufzählung in ein verkniffenes, wütendes Stirnrunzeln, das sein ganzes Gesicht in Falten legte und ihn noch bitterer wirken ließ, als er ohnehin schon aussah. Doch er unterbrach Clara nicht. Er ließ sie reden, hörte zu, blätterte in den Unterlagen, die sie ihm reichte.
Als sie schließlich verstummte, breitete sich zunächst ein langes Schweigen in dem mittlerweile dunklen, nur durch die kleine Schreibtischlampe erhellten Büro aus.
Gruber gab keinerlei Kommentar ab. Sein Blick ruhte nachdenklich auf den Dokumenten vor ihm, er nahm sie in die Hand, wie um ihr Gewicht zu messen, strich über die Rücken der Ordner,
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