Brudermord
bereits auf ihrem Schreibtisch. Clara zog eine Grimasse, als sie Ruths Foto auf der Titelseite erkannte. »Mutmaßliche Mörderin auf der Flucht!«, stand in großen Lettern darüber und neben einem wenig vorteilhaften Bild von Kommissar Gruber die spöttische Frage: »Warum haben Sie sie nicht aufgehalten, Herr Kommissar?«
Clara überflog den Artikel. Wenig überraschend mokierte sich der Journalist vor allem über die Tatsache, dass Ruth ausgerechnet aus dem Polizeipräsidium geflüchtet war. Sybille Imhofen, die trauernde Witwe, wurde mit den üblichen Phrasen zitiert: »Warum schützt uns keiner vor dieser Irren?«
Clara begann gerade aufzuatmen, der Artikel schien weniger schlimm als erwartet, als sie zum letzten Absatz kam. Dort hatte Dr. Selmany das Wort. Und er ging frontal auf Clara los.
»Solange es Anwälte gibt, für die Recht und Ordnung Fremdwörter sind, ist in diesem Land alles möglich«, wurde er zitiert, und dann führte er die »Strafverfahren« an, die gegen »diese Dame« liefen, »die nicht einmal davor zurückschreckt, Journalisten zu verprügeln und Unterlagen zu stehlen, wenn sie ihrer Mandantin damit zu Diensten sein kann.«
Clara wurde heiß vor Zorn. So wie dieser Scheißkerl es darstellte, klang es, als sei sie bereits rechtskräftig verurteilt.
Er wurde weiter mit den Worten zitiert: »Wissen wir, wie diese Flucht gelaufen ist? Hat man denn die Anwältin schon einmal gefragt, ob sie weiß, wo sich ihre Mandantin aufhält?«
Mit einem Wutschrei pfefferte Clara die Zeitung in die Ecke. »Dieser … dieser elende Mistkerl … dieser verdammte …«, begann sie, und verstummte abrupt, als Linda aus der Küche kam, eine Thermoskanne in der Hand, und sie mit großen Augen ansah.
»Hallo, Linda!«, brummte Clara und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Wo ist Willi?«
»Bei Gericht. Er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, Sie möchten auf ihn warten, er wird so in einer halben Stunde zurück sein.«
Clara sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf. »Will er etwa mit mir Mittagessen gehen?«, fragte sie ironisch. »Ich glaube, dieser Artikel taugt leider nicht dazu, als Werbung in unserem Schaufenster zu hängen.«
Linda biss sich auf die Lippen und entschied sich dafür, nicht zu antworten. In dieser Stimmung war der nächste Wutausbruch ihrer Chefin nur eine Frage der Zeit, und es war besser, sie nicht durch leichtsinnige Äußerungen zu provozieren, zumal sie noch ein paar unangenehme Nachrichten zu vermelden hatte. Sie ging hinunter zu ihrem Platz und berichtete aus sicherer Entfernung mit bemüht emotionsloser Stimme: »Die Rechtsanwaltskammer hat noch einmal angerufen, Sie sollen sich umgehend melden, sonst wird eine förmliche Anhörung …«
»Als ob es im Augenblick nichts Wichtigeres gäbe als diese Sesselfurzer …« Clara stieß einen heftigen Fluch aus, den Linda geflissentlich überhörte.
Mit gesenktem Kopf las sie weiter: »Und die Polizei hat eine Vorladung zur Vernehmung geschickt wegen der Sache Rammstätter …«
»Wer zum Teufel soll das sein?«, fragte Clara erstaunt. Den Namen hatte sie noch nie gehört.
Linda sah auf. »Theo Rammstätter ist der Journalist, den Sie, ähm, ja also … verprügelt haben sollen …«
Clara lachte. »Hübscher Name.« Sie grinste noch immer, und Linda erlaubte sich auch ein feines Lächeln.
»Ja, das wäre dann also übermorgen …«
»Die ziehen das tatsächlich durch?« Clara schüttelte den Kopf.
Linda war noch nicht ganz fertig. Nach einem letzten Blick auf ihren Zettel sagte sie: »Ja, und dann haben noch drei Mandanten ihr Mandat gekündigt.« Sie warf Clara einen vorsichtigen Blick zu. Deren Gesicht hatte sich wieder gefährlich verfinstert.
»Wer?«, wollte sie wissen.
»Die Eheleute Kravic …«, begann Linda.
»Na, das ist ja ein Verlust!«, höhnte Clara.
»Herr Beierle und die Concept GmbH.«
Clara schwieg. Das war ein herber Schlag. Herr Beierle war einer ihrer ältesten Mandanten. Er hatte eine kleine Firma im Münchner Norden, und Clara trieb seit Jahren seine Forderungen ein, kümmerte sich um sämtliche Verträge und vertrat ihn bei Streitigkeiten vor Gericht. Ein Mandant, der zwar keine hohen, aber sichere und über Jahre konstante Einnahmen gewährleistet hatte. Die Concept GmbH dagegen war eine neue Mandantin: Eine junge, aufstrebende Werbeagentur, mit der Clara und Willi nach langen Verhandlungen einen höchst lukrativen Beratervertrag ausgehandelt hatten, der vor allem von Willi wahrgenommen wurde.
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