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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Er würde erst mal einen Happen essen gehen. Alles, nur nicht die einsame Brotzeit vor dem Fernseher. Eine Halbe Bier oder zwei und dann … Er stand auf und holte müde seine Tasche unter dem Schreibtisch hervor. Sie war leer bis auf die Zeitung von heute Morgen. Trotzdem nahm er sie jeden Tag mit zur Arbeit und am Abend wieder nach Hause. Das sah besser aus, fand er, als mit leeren Händen dazustehen. Außerdem, und das dachte er nur ganz flüchtig und am Rande, hatte ihm seine Frau die Tasche geschenkt, vor über zehn Jahren, als die samstäglichen Radtouren im Leuchtstiftoutfit und der Versicherungsvertreter noch in weiter Ferne gelegen hatten.
    Er nahm die Zeitung heraus und las den Artikel über Ruths Flucht ein weiteres Mal. Dunkler, bitterer Zorn stieg in ihm auf, und er warf die Zeitung auf den Tisch. Dann klemmte er sich die leere Tasche unter den Arm und schaltete die Schreibtischlampe aus. Es war düster im Zimmer, obwohl es erst kurz nach vier war. Bald würde es Winter sein und um diese Zeit schon fast dunkel.
    Weihnachten fiel ihm ein. Würde ihr Sohn Armin bei ihm feiern? Wohl kaum. Da würden sie höchstens beide vorm Fernseher sitzen, mit einem Bier in der Hand. Nein, da sollte er lieber zu seiner Mutter gehen. Falls er überhaupt kommen würde. Er studierte in Berlin, Volkswirtschaft, Politologie und wer weiß, was noch alles. Es dauerte schon ziemlich lange, dieses Studium. Gruber war sich nicht ganz sicher, ob es längst nicht nur noch ein Alibi für die Eltern war, dieses so genannte Studium, doch seine Frau hatte von diesem Verdacht nie etwas wissen wollen. Krankhaftes Misstrauen hatte sie ihm vorgeworfen, und er solle die Ermittlerei im Präsidium erledigen und sie nicht zu Hause damit terrorisieren. Terrorisieren. Das hatte sie wortwörtlich gesagt. Also ließ er seinen Sohn eben studieren, so lange er wollte. Weihnachten würde es dieses Jahr bei ihm jedenfalls nicht geben.
    Er sah sich einen Augenblick in seinem Büro um. Es wirkte grau und trist im fahlen Herbstlicht. Als ob auf allem eine Staubschicht läge, die die Farben verschluckte. Es gab nichts Leuchtendes, nichts Neues in dem Raum. Das müde Grün des Schreibtisches, die grauen Metallschränke, das abgewetzte Furnier der Regale. Sein Blick wanderte zu dem Foto auf dem Tisch. Eine Familie waren sie einmal gewesen. Doch auch das Foto war alt, die Erinnerung daran matt und verbraucht wie die Möbel um ihn herum. Als er sich zur Tür wandte und gerade die Klinke drücken wollte, klopfte es. Seine Hand verharrte einen Augenblick in der Luft, dann ließ er sie resigniert sinken. »Ja?«
    Als sich die Tür öffnete und Gruber sah, wer ihn so kurz vor seinem Feierabend noch störte, hob er beide Augenbrauen. »Sie?«
    Er verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Grinsen: »Was verschafft mir denn diese Ehre?«
    Clara erwiderte sein Lächeln nicht. Sie war erstaunt, wie schlecht Gruber aussah. Nicht dass er wie das blühende Leben gewirkt hätte, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, aber heute wirkte er fast krank. Vielleicht war es aber nur das Licht, das seine Haut so grau wirken ließ und die Falten um seinen Mund so tief. Er war doch sicher schlechte Presse gewohnt, kaum vorstellbar, dass ihn der Artikel von heute Morgen so mitgenommen haben sollte. Sie sah sich in dem Zimmer um. Es war dunkel, aufgeräumt, wirkte geradezu unbenutzt. Offenbar hatte Gruber gerade gehen wollen. Sie bemerkte die dünne Tasche unter seinem Arm.
    »Entschuldigung, wenn Sie wegmüssen …«, begann sie, doch Gruber winkte ab.
    »Keine Eile. Was kann ich für Sie tun?«
    Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und knipste mit einer müden Handbewegung die Schreibtischlampe an. Mit derselben kraftlosen Bewegung zog er einen Stuhl für Clara heran, dann setzte er sich selbst.
    »Lassen Sie mich raten: Sie haben Ihre Mandantin gefunden …«
    Clara schüttelte den Kopf. »Glauben Sie etwa auch, ich war an ihrer Flucht beteiligt?« Sie deutete mit dem Kinn auf die Zeitung, die auf Grubers Schreibtisch lag.
    Jetzt lächelte Gruber tatsächlich ein wenig. »Nein. Im Gegensatz zu denen war ich ja live dabei.« Dann tippte er sich an den Kopf und fragte: »Tut’s noch weh?«
    »Wollen Sie Heile, heile Segen singen?«, gab Clara bitter zurück.
    »Warum sind Sie nur immer so kratzbürstig, Herrgott noch mal«, entfuhr es Gruber.
    Clara biss sich auf die Lippen. »Tut mir leid. War keine Absicht.« Heute war nicht ihr Tag. Definitiv nicht.
    »Was wollen Sie

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