Brudermord
in denen sich Ruths Krankenakten befanden, und runzelte nach wie vor die Stirn. Endlich, nach langen Minuten der Stille, in denen Clara ihn angespannt beobachtet hatte, öffnete er den Mund.
»Und die Todesfolge? Wer soll das sein?«, fragte er knapp, ohne den Blick von den Papieren in seinen Händen abzuwenden.
Clara atmete tief ein und schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Er hatte die Sache nicht von vornherein als Hirngespinst abgetan, hatte nicht versucht, sie abzuwimmeln oder die ganze Sache, was sie am meisten befürchtet hatte, als Ablenkungsmanöver verstanden. Im Gegenteil. Er war ihr gefolgt, hatte den Gründen für die von ihr beabsichtigte Strafanzeige nicht widersprochen und war jetzt mit ihr an dem Punkt angelangt, wo sie ihn hinbringen wollte. Wo sie ihn brauchte.
Sie griff noch einmal in die Tasche und holte Ruths Briefe heraus. Dann langte sie nach dem grauen Ordner, der die Versuchsbeobachtungen enthielt. Sie schlug die letzte Seite auf. »Hier, schauen Sie, hier bricht die ›Therapie‹, wie sie es nennen, plötzlich ab, obwohl noch im letzten Bericht davon die Rede ist, wie vielversprechend die Ergebnisse seien.«
Gruber lies ein Schnauben hören, das Abscheu verriet, und Clara konnte ihm nur beipflichten.
Ihr ging es jedes Mal aufs Neue so, wenn sie die verharmlosenden Ausdrücke las, die vorgaukelten, es handele sich hier um eine Heilbehandlung.
Clara deutete auf das Datum: »28. November 1984. AB. Ich denke, AB steht für abgebrochen, oder Abbruch. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, weshalb sie es abgebrochen haben, kommentarlos, obwohl sie vorher jede Zuckung von Ruth Imhofen genauestes dokumentiert haben.«
Sie machte eine Pause, und Gruber musterte das Krankenblatt.
»Hm. Stimmt, das ist ein bisschen merkwürdig. Vielleicht ist da ein Teil verloren gegangen oder entfernt worden?«
Clara zuckte mit den Schultern. »Kann sein, aber warum dann nur dieser Teil? Dann hätte man doch gleich den ganzen Ordner verschwinden lassen können.«
Gruber musterte das Blatt jetzt angestrengt, als könnte es ihm eine Antwort geben, wenn man es nur genau genug ansah. Dann sagte er langsam: »Es ist etwas passiert. Etwas ist vorgefallen, was sie nicht geplant hatten, was einen Abbruch des Ganzen notwendig gemacht hatte, und was sie nicht dokumentieren durften.«
Clara nickte. »Das habe ich mir auch gedacht.« Sie zog die beiden Briefe von Ruth aus dem Paket, in dem von ihrer Zimmergenossin die Rede war, einer der ersten und der letzte Brief von ihrer Flucht, und reichte sie Gruber. »Ruth war nicht die Einzige, an der diese Versuche unternommen wurden. Es gab mindestens noch eine Person, und im Gegensatz zu Ruth hat sie es nicht überlebt.«
Gruber las die beiden Briefe aufmerksam. Beim zweiten sah Clara, wie seine Hände zu zittern begannen. Hastig legte er das Blatt auf den Tisch und las so weiter. Als er zu Ende war, fuhr er sich ein paarmal mit den Händen über die Haare, und sein Blick wanderte zum dunklen Fenster.
»Maja«, sagte er dann langsam. »Sie meinen Maja.«
Clara nickte. »Ja. Aber ich weiß nicht mehr über sie als den Vornamen. Und es ist nicht einmal sicher, ob es nicht nur ein Spitzname ist.« Sie dachte dabei an Ruths Angewohnheit, die Leute nach irgendwelchen Eigenschaften zu benennen, wie Schneekönigin für die Ärztin und Gift-und-Galle-Gruber.
Der Kommissar nickte. »Man müsste die Unterlagen der Klinik in diesem Zeitraum einsehen. Und überprüfen, ob es im November 1984 Todesfälle gab …«
Clara nickte ebenfalls, schwieg aber.
Plötzlich lachte Gruber laut auf, und es klang echt belustigt und kein bisschen nach Gift und Galle: »Sie sind ein verdammt raffiniertes Frauenzimmer.«
Clara lächelte.
Gruber musterte sie mit scharfen Augen. »Sie wollen, dass ich für Sie eine Durchsuchung der Klinik erwirke, und damit schlagen Sie gleich ein paar Fliegen mit einer Klappe: Sie decken die miesen Machenschaften des Dr. Selmany auf und rücken Ruth Imhofen so in ein vollkommen anderes Licht, sie erhalten möglicherweise Beweise für eine Schadensersatzklage, die Sie sicher längst in der Schublade haben, und ganz nebenbei verschaffen Sie sich selbst eine um einiges bessere Presse als die von heute Morgen.« Er verstummte einen Moment, dachte nach und fügte dann ehrlich hinzu: »Und mir auch.«
Clara musste jetzt selbst lachen. »Treffender hätte ich es nicht ausdrücken können.«
»Oho, ein Eingeständnis, das für eine Anwältin schon ein
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