Brudermord
Gesicht.
Als Clara nach einem kalten, windigen, irgendwie surrealen Wochenende, an dem sie ruhelos wie ein Tiger im Käfig darauf gewartet hatte, dass etwas passierte, am Montag schon um acht in die Kanzlei ging, war Willi erwartungsgemäß noch nicht da. In der Regel kam er erst so gegen halb zehn. Es war ihr nur recht. Es graute ihr davor, ihm den ganzen Tag gegenübersitzen zu müssen, der Raum zwischen ihnen erfüllt von eisigem Schweigen. Sie kramte lustlos in den Wiedervorlagen herum und begann dann, ein paar Briefe zu diktieren. Draußen wehte ein kalter Wind die letzten welken Blätter vor sich her.
Nach einer Stunde kam Linda, mit rosigen Wangen, in einen weißen Wollmantel gehüllt.
Clara blickte kaum auf. Sie wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Das Einzige, was sie wollte, war eine Nachricht von Gruber, dass er den Durchsuchungsbeschluss erwirkt hatte. Sie klemmte die diktierte Kassette auf die Akten und brachte sie zu Linda hinunter. Dann warf sie einen Blick auf die wenigen Briefe, die Linda vom Postfach mitgebracht hatte. Das meiste waren Rechnungen. Nicht gerade rosige Zeiten für die Kanzlei. Und dann noch die Mandatskündigungen.
Sie schluckte den bitteren Geschmack hinunter, den dieser Gedanke ihr verursachte, und ging vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Der Herbst schien nun endgültig vorbei. Tiefer Nebel hing über den Dächern, und die Luft war kalt und feucht. Sie fröstelte in ihrem dünnen Leinenpulli und rieb sich die Arme.
Fünf Tage waren seit Ruths Verschwinden bereits vergangen, und noch immer fehlte jede Spur von ihr. Wo mochte sie nur sein? Wie war es nur möglich, dass die Polizei sie nicht gefunden hatte? Und warum hatte sie sich nicht bei Clara gemeldet? Diese Frage versetzte Clara einen Stich, sooft sie sich ihr stellte. Sie war doch diejenige Person, die Ruth am ehesten hätte helfen können. Sie unterstand der Schweigepflicht, sie war - so hatte Clara zumindest angenommen - neben Pater Roman die einzige Person, zu der Ruth nach ihrer Entlassung Kontakt gehabt hatte. Und, aber auch das war nur eine von Claras Annahmen, sie hatten in der Zwischenzeit ein gewisses Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut. Sie dachte an den Nachmittag auf dem Friedhof, an Ruths Bilder und seufzte. War das alles nur Einbildung, Täuschung gewesen? Ruth musste jemanden kennen, sie musste von einem Ort gewusst haben, an dem sie sich verstecken konnte.
Wenn sie sich überhaupt versteckt hatte. Dieser Zweifel war neu, er kam Clara zum ersten Mal. Vielleicht war es gar nicht so? Vielleicht hatte sie sich etwas angetan, und man hatte ihre Leiche nur noch nicht gefunden? Sie schüttelte den Kopf. Nein. Das konnte sie nicht glauben. Ruth war eine Kämpferin. Sie hatte die letzten vierundzwanzig Jahre überstanden, da würde sie sich doch jetzt, nachdem sie endlich frei war, nicht umbringen. Oder doch? Die leise zweifelnde Stimme in Clara ließ sich schwer zum Schweigen bringen: Was, wenn sie den Mord an ihrem eigenen Bruder nicht verkraftet hat? Was, wenn sie befürchtete, erneut eingesperrt zu werden, und keinen anderen Ausweg mehr wusste? Vielleicht treibt sie in der Isar, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man sie findet … Clara schüttelte den Kopf und sagte laut: »Sie ist nicht tot. Sie hat sich versteckt. Ich weiß das.« Und als die leise Stimme in ihr höhnte: »Woher willst du das denn wissen?«, gab sie sich selbst leise zur Antwort: »Weil ich es genauso machen würde.«
Dann ging sie zurück in die Kanzlei und an ihren Computer. Sie musste diesen Pablo ausfindig machen. Wenn er noch in München war, dann war er die wahrscheinlichste Spur, die zu Ruth führte. Clara wusste, wie schwach diese Vermutung war. Ein Mann, den Ruth vor über zwei Jahrzehnte offenbar zuletzt gesehen hatte. Dem sie Briefe geschrieben hatte, die ihn nie erreicht hatten. Der sich nie mehr um sie gekümmert hatte … Sie wusste, wie gering die Wahrscheinlichkeit war, diesen Mann überhaupt ausfindig zu machen. Und außerdem, wie hätte Ruth ihn finden können? Clara wusste, es war nur ein Strohhalm, an den sie sich klammerte, aber sie hatte nichts anderes.
Sie gab »Pablo« und »Bildhauer« in eine Suchmaschine ein, scrollte sich durch Listen von Künstlervereinigungen im Umkreis von München, versuchte es mit den Vornamen, die Lieselotte Winter ihr gegeben hatte: Jonas und Jesaja. Sie wühlte sich zum x-ten Mal durch die alte Strafakte, kontrollierte die Namen aller Zeugen, die
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