Brudermord
selbst zu entkräften. Diese Anschuldigungen in aller Öffentlichkeit hatten sie sehr viel stärker getroffen, als sie es sich hatte eingestehen wollen. Plötzlich schämte sie sich dafür, dass sie überhaupt daran gedacht hatte, zu versuchen, die Presse für sich einzunehmen, und ihre Gesichtsfarbe verwandelte sich von zartem Rosa in flammendes Dunkelrot.
»Tut mir leid, es ist nur, weil ich …, es ist so unfair, diese Berichte in der Zeitung und …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.« Sie packte Ruths Briefe in die Tasche und stand auf. »Sie tun Ihre Arbeit und ich … ich vertraue Ihnen.«
Sie reichte ihm die Hand. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, und danke für den Kaffee.«
Sie ging, und als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, setzte sich Gruber wieder auf seinen Platz und starrte in die leere Tasse. Auf dem Grund hatte sich der Zucker angesammelt, der sich nicht so schnell hatte auflösen können, wie er den Kaffee ausgetrunken hatte. Eine gelbliche breiige Masse. Nachdenklich kratzte er mit dem Löffel darin herum.
»Man muss es halt aushalten«, murmelte er, wie als Antwort an Clara, die längst nicht mehr da war. »So was müssen Sie schon aushalten!« Doch dann dachte er daran, dass er es gewesen war, der die Rechtsanwaltskammer informiert hatte und dass er sich gefreut hatte, dieser Anwältin Schwierigkeiten zu bereiten. Ihr, stellvertretend für alle, über die er sich jemals geärgert hatte. Mit angewidertem Gesicht löffelte er den Zucker aus der Tasse. Er schmeckte nach kaltem Kaffee und hinterließ ein ekelhaft klebriges Gefühl auf seiner Zunge. Dann packte er seine leere Tasche und knipste zum zweiten Mal an diesem Abend das Licht an seinem Schreibtisch aus.
Zu Hause erwartete ihn das Frühstücksgeschirr auf dem Küchentisch. Er nahm den Teller, fegte die Krümel des Toastbrots in die Spüle und nahm eine halbe Lyoner und ein Bier aus dem Kühlschrank. Am Tisch schnitt er die Wurst in dicke Ringe und spülte sie mit dem Bier hinunter. Am Schluss stellte er den Teller und die leere Kaffeetasse von heute Morgen zusammen mit dem Bierglas in die Spüle. War eigentlich ganz praktisch so, fand er. Im Grunde konnte er das Geschirr morgen noch einmal zum Frühstück hernehmen. Dann ging er ins dunkle Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. Ohne Licht zu machen, packte er die beiden Blumentöpfe seiner Frau und ging hinaus auf den Balkon. Ein großer, tiefer Balkon gehörte zu der Wohnung, mit Platz für mindestens einen Liegestuhl und einen richtigen Tisch mit Stühlen, keinem so windigen Klapptisch, auf den man nicht einmal zwei Teller gescheit hinstellen konnte.
Im Frühling würde er sich den Balkon schön herrichten. Seit einiger Zeit hatte er das schon vorgehabt. Er würde Holzelemente im Baumarkt kaufen und auf dem Beton verlegen. Das gab einem so ein warmes Urlaubsgefühl, wenn man barfuß darauf lief. Tisch und Stühle aus massivem Holz, kein Plastikg’lump. Und eine Laterne, wie man sie auf Schiffen hatte, die konnte man dann schön auf den neuen Tisch stellen. Bisher war immer zu wenig Platz gewesen, denn seine Frau hatte so ein Gestell zum Wäschetrocknen gehabt, mit ausklappbaren Flügeln, auf denen dann seine verschrumpelten Socken und die Unterhosen neben ihrem Radlerdress in der Sonne getrocknet wurden. Sie hatte sich stets vehement geweigert, einen Wäschetrockner zu kaufen. Er mache alles schneller fadenscheinig und löchrig, hatte sie argumentiert. Aber den Wäscheständer hatte sie jetzt mitgenommen, und sobald er frei hatte, würde er sich so einen Trockner kaufen. Einen Kondenstrockner, der keinen Abluftschlauch brauchte. Er hatte sich schon erkundigt. Und dann konnte er die Terrasse gemütlich herrichten. Vielleicht würde er sich sogar einen kleinen Elektrogrill anschaffen? Der machte nicht so viel Rauch, das würde die Nachbarn fast gar nicht stören. Er stellte sich vor, wie er im Sommer dann dasitzen würde, ein brutzelndes Schweinenackensteak auf dem Grill, amerikanische Barbecuesoße mit Rauchgeschmack, Knoblauchsoße und Kartoffeln in der Schale gekocht. Keinen Salat, keine Garnelen oder so einen Schmarrn, höchstens noch eine Scheibe Brot dazu. Und die Kerze in der Laterne würde ein warmes Licht abgeben.
»Schön«, murmelte er und warf die beiden Blumentöpfe über das Geländer. Mit einem lauten Scheppern zerschellten sie auf dem Pflaster. Er ging zurück ins Wohnzimmer, ein zufriedenes Grinsen auf dem
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