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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Pablo? Er ist fort?«
    »Er ist fort. Ich habe ihn weggeschickt. Warum habe ich ihn nur weggeschickt?« Sie begann zu weinen.
    »Sie haben ihn weggeschickt? Warum?«
    Doch Ruth antwortete nicht. Sie wiegte sich wieder hin und her, dabei weinte sie leise vor sich hin. »Ich hätte das nicht tun dürfen, wir hätten uns nicht streiten dürfen, ich habe ihn weggeschickt.«
    »Wissen Sie, wo er hingegangen ist?« Clara fiel es schwer, ruhig zu bleiben, aber es war klar, dass es keinen Sinn hatte, die Frau zu drängen.
    Ruth schüttelte den Kopf. Sie schluchzte auf, und Clara spürte, wie ihre mageren Schultern bebten.
    Sie versuchte es noch einmal. »Wo ist Pablo? Ruth, bitte, antworten Sie mir? Können Sie mir sagen, wo Pablo ist?« Ruth schüttelte den Kopf. »Ich hätte ihn nicht wegschicken dürfen«, flüsterte sie.
    Clara begann plötzlich zu begreifen, dass Ruth nicht von der Gegenwart sprach. Sie streichelte wieder über Ruths Kopf, ihre Haare waren trocken und filzig wie ein Vogelnest. »Was ist passiert, Ruth? Was ist damals passiert?«
    »Ich weiß es nicht, ich weiß es doch nicht!« Sie weinte wieder. Dann hob sie plötzlich den Kopf, als lausche sie auf ein Geräusch, das nur sie hören konnte. »Er ist da. Warum nur ist er gekommen? Er war doch gar nicht eingeladen. Noch nie ist er gekommen Aber jetzt ist er da, plötzlich ist er da. Ich verstehe das nicht, was sagt er zu mir? Ich verstehe es nicht, die Tür … er tritt gegen die Tür …«, sie brach ab.
    »Von wem sprechen Sie, Ruth?«, fragte Clara und versuchte, ihre Stimme ruhig und Vertrauen erweckend klingen zu lassen. »Wer hat die Tür eingetreten? Es war Udo Reimers, nicht wahr? Er war nicht eingeladen und ist trotzdem gekommen. Er hat Sie bedroht und beleidigt, Sie hatten Angst vor ihm … und dann ist Pablo gekommen … er hat Ihnen nur helfen wollen, und er hat die Skulptur gepackt und …«
    »Nein, nein, nein!« Ruth heulte auf wie ein Tier. Und dann, völlig unvermittelt, packte sie Clara so heftig an den Armen, dass diese vor Schmerz zusammenzuckte.
    »Er stirbt«, schrie sie Clara ins Gesicht, und ihre Stimme war schrill vor Angst. »Sein Blut ist überall, sieh doch nur, er stirbt, bitte, tu doch etwas, er stirbt, siehst du nicht, er stirbt, bitte … bitte, bitte ….«
    Ihre Stimme wurde leiser und ging in ein Wimmern über. Sie ließ Clara los, und ihr Kopf sank wieder zurück auf ihre Knie.
    Elise, die bei Ruths Geschrei aufgesprungen war, bellte aufgeregt. »Scht«, zischte ihr Clara hastig zu, und der Hund verstummte, wenn auch widerstrebend. Clara rieb sich benommen ihre Oberarme, und dann warf sie einen furchtsamen Blick auf Ruth, die jetzt wieder bewegungslos neben ihr kauerte und fast mit dem Kleiderhaufen verschmolz.
    Clara verfluchte sich für ihre Sturheit. Wie war sie nur auf den wahnwitzigen Gedanken kommen, sie könnte das alleine regeln? Ruth brauchte ärztliche Hilfe. Wenn sie wenigstens ein Handy hätte.
    »Möchten Sie nicht rauskommen? Wir könnten uns auf das Bett setzen und ein Glas Wasser trinken, oder vielleicht kann ich einen Tee kochen?« Claras Stimme zitterte. Sie griff nach Ruths Hand und versuchte, sie behutsam aus ihrer Ecke zu ziehen. »Kommen Sie doch bitte, wir gehen hier raus, ja?«
    Doch Ruth entzog ihr die Hand und verknotete damit wieder ihre Beine. »Er ist nicht mehr da. Er hat mich verlassen.«
    »Haben Sie Pablo hier getroffen?«, versuchte es Clara erneut, und sie hatte das Gefühl, blind auf einem Minenfeld umherzutorkeln.
    »Sie waren am Sonntag vor zwei Wochen schon einmal hier, nicht wahr? An dem Tag, an dem Sie so lange verschwunden waren. Da haben Sie Pablo zum ersten Mal wiedergesehen. Nach all den Jahren. Sie wollten mit ihm darüber sprechen, was damals passiert ist.«
    »Er wusste es nicht. Er wusste nichts. Ich hatte ihn ja weggeschickt. Beide haben wir nichts gewusst. Gar nichts.« Ruth begann erneut zu weinen.
    Claras Hirn fing unvermittelt wieder an zu arbeiten, ihre Gedanken bewegten sich rasend schnell, ein Bruchteil fand zum anderen, und plötzlich hatte sie ein fertiges Bild vor Augen.
    »Er hat es nicht gewusst«, murmelte sie vor sich hin. »Natürlich, er hat es nicht gewusst. Er hat alles erst von Ruth erfahren, an diesem Sonntag vor zwei Wochen, an dem Sonntag, an dem Imhofen getötet wurde …«
    Sie hielt erschrocken inne und langsam, wie in Zeitlupe, sank ihr Blick nach unten und blieb an dem Werkzeug hängen, das sie noch immer in den Händen hielt: Es war ein

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