Brudermord
daneben. Das, was einmal der Kopf hatte werden sollen, lag zerbrochen im Blätterbett. Clara trat auf Scherben von Bier- und Weinflaschen, eine stattliche Anzahl weiterer Flaschen stand, mehr oder weniger sorgfältig aufgereiht, neben den verwitterten Steinblöcken. An der Wand, rechts der Eingangstür, war eine dünne, feingemaserte Marmorscheibe angebracht, sauber poliert und mit sorgfältig eingravierten Schriftzügen wirkte sie wie ein Fremdkörper zwischen all dem Unrat und den allgegenwärtigen Zeichen der Verwahrlosung.
JAKOB SCHELLING
BILDHAUER
Clara überkam eine große Traurigkeit, als sie die Worte las. Begabt soll er gewesen sein, ein »ganz anderes Kaliber«, einer mit einer echten Karriere vor sich, so hatte Lieselotte Winter ihn beschrieben. Selbst wenn Clara ihn hinter dieser Tür antreffen würde, was sie stark bezweifelte, so würde sie ihn doch nicht gefunden haben. Pablo, Ruths Geliebter, dieser kraftvolle, rothaarige junge Mann mit dem energischen Kinn auf dem Foto, an den all diese herzzerreißenden Briefe gerichtet waren, gab es längst nicht mehr. Was war mit ihm geschehen? Was hatte ihn so abstürzen lassen?
Clara sah sich noch einmal in dem verlassenen Hinterhof um. Gegenüber der Werkstatt standen drei große Mülltonnen, vollgestopfte Plastiktüten lagen daneben, leere Kartons, ein Fahrrad ohne Vorderrad, sogar ein ausrangierter Fernseher. Die Wände des Wohnhauses waren mit Graffiti verschmiert, die Fenster zum Innenhof teilweise mit Tüchern und Decken zugehängt, manche wirkten wie leere Löcher. Wären die Satellitenschüsseln an der Vorderfront und der Müll nicht gewesen, hätte man glauben können, der ganze Block sei unbewohnt. So oder so hatte man ihn dem Verfall preisgegeben. Womöglich stand der Zeitpunkt des Abrisses bereits fest. Oder aber die Gebäude moderten und gammelten noch eine Weile unbemerkt vor sich hin, bis sich ein Investor auftat oder die Stadt sich doch noch erbarmte. Die Tage von Jakob Schellings Bildhauerwerkstatt, sofern sie diesen Namen überhaupt noch verdiente, waren jedenfalls gezählt.
Clara versuchte sich vorzustellen, was Ruth empfunden hatte, als sie hierhergekommen war. Welche Erwartungen hatte sie gehabt? Wollte sie einfach nur den früheren Geliebten wiedersehen? Oder hatte sie die Hoffnung gehabt, dort anknüpfen zu können, wo sie vor vierundzwanzig Jahren unterbrochen worden waren? Er hatte keinen Finger für sie gerührt in all den Jahren. Und auch ihre Briefe hatte er nie erhalten. Was konnte sie von ihm schon erwarten? Vielleicht war es aber auch Wut gewesen, das Bedürfnis abzurechnen, weil er sie im Stich gelassen hatte? Und die vielleicht wichtigste Frage: Hatte sie ihn angetroffen, diesen unbekannten Mann, der aus Pablo geworden war? Und wenn ja, was war dann passiert?
Behutsam drückte Clara die Klinke zur Werkstatt hinunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Clara fasste Elise warnend am Halsband und trat vorsichtig ein. Eine dunkle, staubige Kühle empfing sie. Durch das kleine Fenster neben der Tür drang nur spärliches Licht, das nicht bis in die Ecken vordrang. Die Scheibe war mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt, ein Stück war herausgebrochen und mit Klebeband notdürftig repariert worden. Davor stand eine verwitterte, mit feinem, hellem Staub bedeckte Werkbank, an der Wand daneben hing allerlei Werkzeug. Clara drückte den Lichtschalter neben der Tür, doch nichts geschah. Entweder war die einzelne Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, ausgebrannt, oder der Strom war abgestellt.
Clara blieb unschlüssig an der Schwelle stehen. Die Werkstatt bestand aus einem einzigen niedrigen Raum, und offenbar hatte Jakob Schelling hier nicht nur gearbeitet, sondern nach seinem Rauswurf aus der Wohnung auch gelebt. An der linken Wand stand eine Pritsche mit Decken und einem Schlafsack darauf, an das Fußende war ein kleiner Elektroofen geschoben. Neben dem Waschbecken auf der rückwärtigen Seite des Raumes war auf einer Kommode ohne Schubladen eine notdürftige Küche eingerichtet: Zwei Campingkochplatten, etwas angeschlagenes Geschirr, ein paar Gläser und darüber in einem Regal an der Wand Dosen mit Bohnen, Ravioli, Mais, Ölsardinen, Corrnedbeef und ein paar angebrochene Tüten mit schwer identifizierbarem Inhalt. Daneben eine weitere Tür, hinter der eine Toilettenschüssel zu sehen war.
Im Raum verteilt standen auch hier, wie schon draußen, einige unterschiedlich große Steinquader und dicke
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