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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Platten herum, eine halb fertige Arbeit, ein in sich verschachtelter Würfel, stand rechts von der Tür. Dahinter in der Ecke, im schwachen Licht kaum erkennbar, ein dunkler, undefinierbarer Haufen Stoff, offenbar Kleidungsstücke, wie Clara vermutete, die in Ermangelung eines Schrankes auf den kahlen Betonboden geworfen worden waren.
    Wie sie erwartet hatte, von Jakob Schelling keine Spur. Und auch nicht von Ruth. Sie versuchte es trotzdem. »Ruth?«, flüsterte sie leise in die Stille hinein. »Sind Sie da?«
    Clara machte ein paar Schritte in den Raum hinein, und im gleichen Augenblick spürte sie, wie Elise sich unter ihrer Hand anspannte. Der Hund machte keinen Mucks, aber ganz offenbar hatte er etwas bemerkt, was Clara entgangen war. Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Durch die offene Tür konnte sie in den Hof hinaussehen. Er war noch immer menschenleer. Unvermittelt bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie war ganz allein, niemand wusste, wohin sie gegangen war. Wenn ihr etwas passieren sollte, würde sie so schnell niemand finden. Sie schluckte und fasste Elises Halsband fester. Mit großer Kraftanstrengung gelang es ihr, das Kribbeln in ihrem Rücken, das zur Flucht mahnte, zu ignorieren. Was soll schon passieren, sagte sie sich, es ist ja niemand da. Doch in dem Moment hörte sie ein Geräusch. Ganz leise, kaum wahrnehmbar, aber Elise hatte es auch gehört. Sie machte einen kleinen Satz in die Richtung, aus der es gekommen war, und fast hätte Clara das Halsband losgelassen. Instinktiv sah sich Clara nach etwas um, das sie als Waffe benutzen konnte, und griff hastig nach dem größten und am schwersten wirkenden Werkzeug, das neben ihr in der Halterung an der Wand hing. Dann schlich sie, Elise fest am Halsband und mit der anderen Hand das Werkzeug umklammert, zu der dunklen Ecke, in der der Kleiderhaufen lag. Als sie näher kam, hörte sie das Geräusch wieder, dieses Mal deutlicher, und Clara erkannte, was es war. Sie bekam eine Gänsehaut. Es war eine menschliche Stimme, ganz leise, kaum hörbar. Jemand flüsterte.
    Elise hielt es nicht mehr aus und begann zu bellen. Als Clara den Hund wieder zum Schweigen gebracht hatte, war die Stimme verstummt.
    »Ruth!«, rief sie aufs Geratewohl in die Ecke hinein. »Kommen Sie doch bitte heraus, es geschieht Ihnen nichts.«
    Als Antwort kam ein leises Wimmern, das Clara fast noch grauenvoller fand als das monotone Flüstern vorhin.
    Sie atmete tief ein, schloss für einen Moment die Augen, dann drückte sie Elise sanft aufs Hinterteil und befahl leise: »Du bleibst hier, verstanden? Sitz!«
    In die Richtung, aus der das Wimmern kam, sagte sie so ruhig und fest wie möglich: »Ich komme zu Ihnen, Ruth, erschrecken Sie nicht. Ich bin es, Clara Niklas. Es geschieht Ihnen nichts.«
    Wie eine Beschwörungsformel wiederholte sie die Worte immer wieder und schob sich vorsichtig an dem großen Steinkubus vorbei in die Ecke.
    Ruth saß eng an die Wand gepresst neben dem Haufen Kleider, die Clara vom Eingang aus gesehen hatte. Sie hatte sich zusammengekrümmt, die Hände fest um ihre Unterschenkel geschlungen, den Kopf zwischen die Knie geklemmt.
    Clara ging in die Hocke und tastete sich langsam vorwärts, noch immer beruhigend flüsternd, bis sie Ruths Hände berühren konnte. Sie waren eiskalt und so verkrampft, dass sie wie aus Stein gemacht schienen. Als Ruth nicht auf die Berührung reagierte, versuchte Clara, ihre Hände von den Beinen zu lösen, doch sie waren wie miteinander verwachsen, und Claras Bemühungen hatten lediglich den Erfolg, dass Ruths Wimmern lauter wurde und sie sich hin und her zu wiegen begann. Clara ließ los, und nach ein paar Augenblicken ratlosen Zögerns kroch sie neben Ruth und legte vorsichtig den Arm um ihre Schultern.
    Nach einer Weile fing sie an, über Ruths Haare zu streicheln, und murmelte dabei leise, beruhigende Worte, wie zu einem Kind, das aus einem Albtraum nur halb erwacht und sich nicht wecken lässt, sinnloses, beruhigendes Gemurmel, alles wird gut, ja, ja, ist ja schon gut, meine Liebe, schon gut …
    Eine kleine Ewigkeit später, wie es schien, während die Kälte der Wand in Claras Rücken und Beine kroch und sie steif werden lies, löste sich Ruths Verkrampfung ein wenig, und sie hob den Kopf. Clara konnte ihr Gesicht in dem düsteren Licht kaum erkennen, eine helle Fläche, die dunklen Augen waren in die Ferne gerichtet.
    »Er ist nicht da«, flüsterte Ruth. »Er ist nicht mehr da.«
    Clara nickte. »Sie meinen

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