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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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lange an einem Ort zu bleiben, immer hatte es sie weitergezogen, wie auf der Flucht, um am Ende mehr zufällig in ihrer alten Heimatstadt zu landen, mit einer gescheiterten Liebesgeschichte und noch so manchen zerstörten Träumen im Gepäck. Aus diesem verbitterten, wütenden Neuanfang in der Stadt, in der sie nie hatte bleiben wollen, waren jetzt schon über fünfzehn Jahre geworden, und mittlerweile konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder wegzuziehen. Diesen Platz mochte sie besonders. Der weite Blick die Straße hinunter bis zum Siegestor half ihr beim Denken. Doch heute wollte sie nicht nachdenken. Sie wollte sich keine Gedanken darüber machen, was sie bei Jakob Schelling erwartete, und vor allem wollte sie sich nicht der unangenehmen Frage stellen, was als Nächstes zu tun wäre, falls Ruth tatsächlich dort war. Seufzend schob sie Elises Kopf beiseite und stand auf.
     
    Das Haus, in dem Jakob Schelling wohnte, befand sich im Stadtteil Sendling, ein altmodischer, zweistöckiger Mietsblock in einer ruhigen Seitenstraße, mit gleichförmigen Fenstern und einer Haustür, an der die Farbe abblätterte. Während Clara die Namensschilder an den Klingeln studierte, beugte sich aus dem Fenster im ersten Stock eine dicke Frau mit kurzen grauen Locken ums rote Gesicht und blauer Kittelschürze. Sie hatte ihre feisten Unterarme auf ein Kissen gestützt, um es auf ihrem Beobachtungsposten auch bequem zu haben.
    »Zu wem wollen S’ denn?«
    »Zu Herrn Schelling. Jakob Schelling. Der wohnt doch hier?« Clara musterte erneut die Namen auf den Schildern. Ein Jakob Schelling befand sich nicht darunter.
    »Was ham’s nur allaweil mit dem Schelling? Zuerst kümmert sich jahrelang kein Mensch um den Kerl, und jetzt, wo’s ihn rausgschmissen ham, kammat’n se daher.« Die Frau warf Clara einen vorwurfsvollen Blick zu.
    Clara hatte das unbestimmte Gefühl, sich für irgendetwas entschuldigen zu müssen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die eigentliche Botschaft zu ihr durchdrang. »Rausgeworfen?«, wiederholte sie. »Er wohnt nicht mehr hier?« Ihre Hoffnung sank.
    »Sag i doch! Schon über a halbes Jahr nimmer. Es geht halt nicht, hat der Vermieter gsagt, mit der Trinkerei, und die Miete hat er ja auch nimmer gezahlt.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Hat mir schon a bissl leidgetan um ihn. War eigentlich kein unrechter Kerl, wenn halt das Saufen ned gwesen war. Soll ja recht begabt gwesen sein, sagen die Leut. Jetzt hat er nur no ab und zu an Grabstein gmacht für jemand, dem er leidgetan hat. Und die hat er auch ned fertig bracht. Da waren de Leichen scho a paar Monat unter der Erden, und dann is er erst mit dem Stein daherkemma.«
    »Und Sie wissen nicht zufällig, wohin er gezogen ist?«, fragte Clara leise.
    »Mei, des Gleiche hat de andere Frau mich auch gfragt.« Die Frau stützte sich mit beiden Armen auf das Kissen und schürzte die Lippen.
    »Eine andere Frau?«, hakte Clara aufgeregt nach.
    »Ja, ich sag doch, jetzt auf einmal geht’s hier zu wie am Stachus, jetzt, wo er nimmer da ist, der Herr Schelling. A komische Frau war des, ganz langsam ist sie dahergschlichen, als ob se schlafwandeln dat …«
    »Wann war das? Letzte Woche?«
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Naa, des is schon länger her. Zwei Wochen mindestens. Jetzt fällts mir wieder ein: Am vorletzten Sonntag wars, des weiß ich noch genau, denn meine Tochter is grad zum Mittagessen kommen, das macht sie immer jeden zweiten Sonntag, und da stand dann de Frau vor der Tür, im Jogginganzug, und wollt’ zu dem Schelling, genau wie Sie jetzt.« Wieder klang ihre Stimme vorwurfsvoll.
    »Und was haben Sie ihr gesagt?«
    »Dass sie halt mal bei seiner Werkstatt vorbeischauen soll, hab ich gsagt, vielleicht hat er die ja sogar noch, oder die Leut dort wissen, wo er hin ist.«
    Clara atmete tief ein und zählte langsam bis zehn, dann bat sie die Frau, ihr zu erklären, wo sich Jakob Schellings Werkstatt befand.
    Der Weg war nicht weit. Nur zwei Straßen weiter im unkrautüberwucherten Hinterhof eines heruntergekommenen Hauses mit mehr Satellitenschüsseln an den Fenstern als Vorhängen befand sich ein kleines, niedriges Gebäude, umgeben von Unkraut und nackten Stauden, deren abgefallene Blätter den Boden wie ein dicker, modriger Teppich bedeckten.
    Als Clara langsam näher kam, entdeckte sie ein paar Steinplatten, aneinandergelehnt an der Hausmauer, die bereits Moos angesetzt hatten, und eine halb fertig gestellte Skulptur lag umgestürzt

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