Brudermord
Clara an der Schulter. Sie schüttelte die Hand ab und hörte, wie die Ärztin sagte: »Das geht jetzt aber zu weit«, und wie Gruber leise antwortete und dann seine Stimme hob: »Frau Niklas, es ist genug! Was soll denn das?«
Clara reagierte nicht. Sie hielt Ruth noch immer fest, versuchte, ihr in die Augen zu sehen.
Plötzlich, kaum sichtbar trat eine winzige Veränderung in Ruths Gesicht ein. »Ihre Stimme?«, wiederholte sie langsam, wie aus einem Traum erwachend. »Ihre Stimme war rot, damals, wie glühendes Holz …«
»Sie erinnern sich wieder, sehen Sie!« Clara lächelte unter Tränen und versuchte, der Vergangenheitsform, die Ruth verwendet hatte, keine Bedeutung beizumessen. Sie drückte Ruths Arm fester. »Und was ist mit Pablo? Wissen Sie, wo er ist?«
Ruth hob den Kopf. Es schien, als bemerke sie Clara erst jetzt. »Pablo?«, fragte sie unsicher.
Clara nickte. »Ja, Pablo. Sagen Sie mir, wo er ist, dann hole ich ihn zurück.«
Ruths Blick schweifte ab. »Sie holen ihn zurück? Das geht nicht. Er ist weg. Er ist am Meer. Dorthin ist er immer schon gegangen, immer schon.«
»Am Meer? An welchem Meer?«, fragte Clara aufgeregt.
»Das reicht jetzt wirklich!« Gruber trat dazwischen und schob Clara energisch fort. »Sie sind ja genauso verrückt wie Ihre Mandantin!«
Clara öffnete den Mund, wollte protestieren, doch sie sah, dass es keinen Zweck mehr hatte.
Ruths Augen hatten sich wieder nach innen gewandt, zeigten keine Regung mehr. Noch einmal würde sie sie nicht auf diese Art erreichen können. Jetzt nicht und vielleicht nie mehr. Clara wandte sich ab. Sie wollte nicht sehen, wie sie Ruth abführten, in das Auto setzten, das vorne an der Straße wartete, und mit ihr wegfuhren.
Gruber bellte ihr noch zu, sie solle am nächsten Morgen ins Präsidium kommen, er habe noch eine ganze Menge Fragen an sie, doch Clara schüttelte nur den Kopf, ohne sich umzudrehen, und machte mit einer deutlichen Handbewegung klar, was sie mit dieser Aufforderung zu tun gedachte. Endlich hörte sie Türenschlagen, und das Auto fuhr weg.
Sie blieb allein zurück in dem Hinterhof, der jetzt wieder so leer und still war wie zuvor. Niemand von den Bewohnern schien sich dafür zu interessieren, was gerade vorgefallen war. Keine Gesichter erschienen an den Fenstern, keiner der Vorhänge und keines der Tücher bewegte sich. Es war totenstill. Nur von draußen, weit entfernt, drang der Straßenlärm herein, Autos fuhren vorbei, ein frisiertes Moped.
Clara setzte sich auf die umgestürzte Skulptur und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten, und als sie den Rauch tief in ihre Lungen inhalierte, spürte sie, dass es nicht reichen würde, um den Schock zu überwinden. Sie brauchte etwas Stärkeres. Aber sie konnte sich nicht aufraffen aufzustehen und wegzugehen. Ihre Beine fühlten sich plötzlich an, als wären sie nicht mehr in der Lage, Claras Gewicht zu tragen. Sie rauchte weiter, zündete sich am Stummel der ersten Zigarette eine zweite an, und langsam hörten ihre Finger auf zu zittern.
»Am Meer«, murmelte sie resigniert. »An welchem Meer, verdammt?« War er in den Norden gefahren? An die Nordseeküste, so wie damals mit Ruth? Oder nach Italien, nach Frankreich, nach Spanien?
»Bist du in Spanien, Pablo?«, fragte sie laut, und ihre Stimme hallte von den Wänden, die den Hinterhof von allen Seiten umschlossen. Es würde passen. Also Spanien? Nur wegen eines albernen Spitznamens, den außer Ruth wahrscheinlich längst keiner mehr benützte, an den er sich vielleicht selbst nicht mehr erinnerte?
Claras Blick wanderte ruhelos umher. Es war wie ein Rätsel, das unbedingt gelöst werden musste. Unbedingt, jetzt sofort. Sie wusste gar nicht, was sie damit anfangen sollte, falls sie es tatsächlich herausfände, sie wusste nur, dass es sie im Moment davon abhielt, über andere Dinge nachzudenken. Es hielt die Bilder fern. Die Bilder von der um sich schlagenden Frau im Klammergriff des Polizeibeamten, von der zusammengesunkenen zerbrochenen Puppe, die man an die Hausmauer gelehnt hatte wie ein Spielzeug, das nicht mehr gebraucht wurde.
Am Meer. Am Meer. Endlich stand Clara auf. Es war kühl geworden, schon später Nachmittag, und sie fröstelte. Ihr Blick fiel wieder auf die verlassene Werkstatt. An der Tür war ein Siegel der Polizei angebracht. Sie würden alles durchsuchen. Sie würden den Klöpfel finden, den sie in der Hand gehalten hatte. Würden sie den Zusammenhang erkennen? Spuren finden?
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