Brudermord
Welche Schlüsse würden sie ziehen? Erhärtete dies in ihren Augen womöglich nur den Tatverdacht gegen Ruth?
Clara zündete sich eine dritte Zigarette an und blies den Rauch zornig in die Luft. Es spielte keine Rolle, ob sie irgendwann auch noch in eine andere Richtung ermitteln würden oder nicht. Sie wusste, Ruth konnte nicht mehr warten. Vielleicht war es ohnehin schon zu spät. Vielleicht war Clara die Einzige, die sich hier noch den Kopf mit sinnlosen Gedankenspielen zerbrach.
Ruths leere Augen gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie würde die Kraft nicht mehr aufbringen weiterzumachen, wenn man sie jetzt wieder in eine geschlossene Anstalt brachte. Das hatte Clara in dem Moment begriffen, als sie ihr in die Augen gesehen hatte. Nichts war mehr darin gewesen, kein Leben, keine Wut, keine Hoffnung, rein gar nichts. Und diese vollkommene Ausdruckslosigkeit hatte Clara an etwas erinnert, was sie jetzt, als sie so hilflos dasaß, liebend gerne aus ihrem Gedächtnis verbannt hätte. Etwas, das ihr Angst machte und ihr das Gefühl vermittelte, die Zeit liefe davon, Ruths Zeit. Es waren jene Zeilen in einem von Ruths Briefen, in denen sie Maja beschrieb. Clara sah sie vor sich, die schräge, etwas krakelige Schrift, und die Worte dröhnten wie eine unheilvolle Mahnung in ihren Ohren: »Sie wird es nicht aushalten, ich spüre es. Ihre Farben gehen. Ihre Stimme klingt wie welkes Gras, durch das der Wind fährt, hinter ihren Augen ist nichts mehr als ein leeres Grau …«
Ruth hatte recht behalten. Kurze Zeit später war Maja tot gewesen.
Clara sprang auf und warf die halbgerauchte Zigarette weg. Sie verglimmte qualmend zwischen den aufgesprungenen Pflastersteinen. Clara musste etwas tun, etwas, das Ruth helfen konnte. Sie musste Pablo finden. Zornig starrte sie das Siegel an der Tür an. Wenn sie es erbrach, würde Gruber sofort wissen, dass sie herumgeschnüffelt hatte. Na, wenn schon, dachte sie böse. Soll er doch. Kurz entschlossen riss sie den Papierstreifen ab und öffnete die Tür. Wenn es einen Hinweis gab, wohin Jakob Schelling gegangen war, dann hier. Einen anderen Ort gab es nicht. Schnell und systematisch begann sie zu suchen. Sie fand erschreckend wenig private Dinge. Ein paar Bücher in der Ecke neben dem Bett, eine alte Mappe mit vergilbten Rechnungen, das war alles. Ratlos sah sie sich um. Wo sollte sie noch suchen? Plötzlich fiel ihr Blick auf die Wand vor ihr. Über dem Bett hing ein Bild. Es war ein DIN-A4-Kalenderblatt, mit Reißnägeln an die Wand gepinnt, und es zeigte …
»Das Meer«, murmelte Clara.
Vorsichtig, fast ehrfurchtsvoll löste sie die Reißnägel und nahm das Blatt herunter. Eine malerische Küste war darauf zu sehen, tiefblaues Meer, und in der Ferne leuchtete ein verschachteltes Fischerdorf mit weißen Häusern in der Sonne. Unten am Rand stand gedruckt: »Cadaqués, Costa Brava.«
Merkwürdig ruhig faltete Clara das Blatt zusammen und schob es in ihre Tasche. Dann verließ sie die Werkstatt. Die Tür mit dem zerrissenen Siegel ließ sie offen. Wie in Trance wanderte sie durch die Straßen, in Gedanken weit weg. Sie achtete nicht darauf, wohin sie ging, sie merkte nicht einmal, dass es langsam dämmerte und schließlich dunkel wurde. Sie fror nicht, obwohl sie nur eine dünne Jacke trug, und sie dachte keine Sekunde daran stehen zu bleiben, nach Hause zu fahren, einen Happen zu essen oder sonstige Dinge zu tun, die möglicherweise angebracht gewesen wären. Sie lief immer weiter, kreuz und quer durch die Stadt, Elise immer an ihrer Seite. Ihre Gedanken liefen mit, sie wanderten verschlungene Wege entlang, versuchten den verstörenden Bildern auszuweichen, die sie immer wieder einholten. Sie lief ihrem eigenen Schock angesichts des überfallartigen Eindringens der Polizei davon, ihrer panischen Angst, die sie gepackt hatte, als sie dem grellen Licht ausgesetzt war, ohne zu wissen, was passierte, Elises Bellen in der Ferne, dem Schmerz, als einer von Ruths ungezielten, wirren Schlägen ihre Lippe traf, dem Geschmack nach Blut auf ihrer Zunge, dem Scharren von Ruths Schuhen auf dem Boden, als der Beamte sie hinauszerrte, dem Geruch nach Staub und Einsamkeit in dem niedrigen, trostlosen Raum, der Ruths letzte Zuflucht gewesen war. Die Tränen rannen ihr das Gesicht hinunter, und sie wischte sie nicht weg. Irgendwann versiegten sie von selbst, und ihre Augen brannten trocken in der kalten Abendluft.
»Das Meer«, flüsterte sie immer wieder, wie ein Mantra, das Schutz und Trost
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